Die Toten der Villa Triste
hoch.
»Um ihre, ich zitiere, Reinheit zu beweisen.« Enzo legte die Steuerunterlagen, die er studiert hatte, auf dem Klapptisch ab. »Damit reagieren sie auf ihre österreichischen und deutschen Kollegen, die ihnen vorwerfen, ›verdorbenes‹ lateinisches Blut zu haben. Sie behaupten, sie seien in Wahrheit Kelten.«
Pallioti nickte, als wüsste er, wovon Enzo redete, während er sich wieder einmal wunderte, was alles an bizarren Informationen in seinem Kollegen steckte. Aber, dachte er, vielleicht mussten verdeckte Ermittler solche Sachen wissen. Sie sammelten Fakten, um sie gegen andere einzutauschen wie Kinder ihre Sammelbildchen.
»Und das Datum?«, fragte er. »Italiens Schande?«
»Der 28. April – der Jahrestag von Mussolinis Tod. 2005«, eröffnete Enzo ihm daraufhin, »ist in faschistischer Zeitrechnung das Jahr 83. Die Puristen rechnen vom Jahr 1922 an, der glorreichen Morgendämmerung, als der Duce die Macht übernahm.«
»Ich verstehe.«
»Genau.« Enzo sah sich den Brief an und verzog dann das Gesicht. »Ich habe mich getäuscht«, sagte er. »So, wie es aussieht, war es doch nicht nur dummes Gerede.«
»Nein.«
»Ich habe schon in Florenz angerufen. Wir fangen mit den bekannten rechten Gruppierungen an und arbeiten uns von dort aus zu den Extremisten vor. Und wir bestellen den Reporter noch einmal ein. Vielleicht können wir noch mehr Leute ausgraben, die über solche Sachen Bescheid wissen. Wir rütteln kräftig am Baum und schauen mal, was alles zu Boden purzelt.«
»Gut.«
Pallioti legte den Brief beiseite und räusperte sich. Das Flugzeug konnte zwar mit einem Klapptisch aufwarten, aber nicht mit Wodka, was im Moment wirklich bedauerlich war. Die Tatsache, dass sie möglicherweise endlich eine echte heiße Spur hatten, war eindeutig eine gute Nachricht. Aber ihm ging etwas anderes im Kopf herum. Seit er am Morgen Roberto Roblinos Kollektion von Partisanen-Souvenirs auf dem Esstisch hatte ausliegen sehen, plagte ihn sein Gewissen.
»Ich muss etwas gestehen«, sagte er. Er griff in die Innentasche, wo er inzwischen immer Caterinas kleines rotes Buch trug, und legte es neben Enzos Akte. »Das habe ich mir ausgeliehen«, murmelte Pallioti. »Aus Giovanni Trantementos Besitz. Aus dem Safe.«
Enzo nickte.
»Ja«, sagte er und zog ein Blatt aus der Akte. »Ich weiß.«
»Sie wissen das?« Pallioti sah ihn bestürzt an. Er hatte pflichtbewusst den Mut aufgebracht, sich seinem Kollegen zu offenbaren, und war schnöde abgeblitzt. Es schien Enzo nicht zu interessieren, dass er bereit war, Reue zu zeigen. Sich für seinen Übergriff zu entschuldigen. Ihm zu versichern, dass er nicht »seinen Rang ausgespielt hatte« und dass er natürlich vorgehabt hatte, es sofort zu sagen, falls die Lektüre etwas ergab, was auch nur entfernt mit ihren Ermittlungen zu tun haben könnte. »Sie wissen das? Woher wissen Sie das?« Er fragte sich, ob Enzo ihm vielleicht etwas vorspielte.
Enzo lächelte.
»Ich habe gesehen, wie Sie es genommen haben.«
Pallioti seufzte. Das war das Problem, wenn man mit einem Ex-Engel arbeitete. Denen entging kaum etwas. Sie waren professionelle Beobachter, fast so etwas wie staatlich sanktionierte Spanner. Pferdeschwanz hin oder her, manchmal vergaß er nur zu gern, dass Enzo ein paar höchst delikate und höchst erfolgreiche verdeckte Einsätze geleitet hatte. Und zwar auf Palliotis Anweisung hin. Womit er ihn nicht nur verletzt, sondern auch beleidigt hatte.
Enzo ließ das Blatt sinken. »Es ist ein Tagebuch, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Pallioti. »Eines von Trantementos Erinnerungsstücken. Aus dem Krieg. Geschrieben von einer Frau, die er damals kannte.«
»Seiner Freundin?«
»Möglich. Ich bin mir nicht sicher. So weit bin ich noch nicht.«
»Ist es wichtig?«
Pallioti zog die Schultern hoch. »Ich glaube nicht.«
11. Kapitel
8. Januar 1944
Weihnachten war so traurig und still und so einsam, dass ich das Fest beinahe vergessen hätte. Ich war fast den ganzen Tag im Krankenhaus, wo ich inzwischen mehr oder weniger lebe und mich, wann immer ich kann, zum Schlafen in meine kleine Totenkammer zurückziehe. Wenn die Tür zu ist, lässt sich nicht mehr sagen, ob es draußen Tag oder Nacht ist, und manchmal verliere ich wirklich den Überblick. Am schlimmsten ist, dass sich meine Träume nicht mehr um Lodo drehen. Auch seine Stimme höre ich nicht mehr. Stattdessen bin ich dazu verdammt, Nacht für Nacht von Neuem zu durchleben, was ich getan habe. Ich träume von
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