Die Toten der Villa Triste
Lebensmittelkarten reichen nicht weit, vor allem bei dieser Kälte, und ohne Heizöl oder Kohle werden genug Menschen sterben, ohne dass es dazu eine Lungenentzündung oder Grippe braucht. An Heiligabend wurde ein Mädchen eingeliefert, das mich so sehr an Issa erinnerte, dass ich es im ersten Moment für meine Schwester hielt. Dann schaute ich ihm ins Gesicht und sah Issa, aber auch keine Issa – eine Issa mit erloschener Flamme.
Das Mädchen heißt Donata Leone. Auf den ersten Blick wirkt sie nicht so schrecklich krank, trotzdem hat sich der Tod in ihren Gesichtszügen eingenistet. Sie kommt aus Genua. Ihre Familie wurde ausgebombt, und alle außer ihr sind gestorben – sie wurde nur gerettet, weil sie nicht zu Hause war. Sie floh nach Florenz, weil sie hier Arbeit zu finden hoffte und weil sie die Stadt für sicher hielt. Und jetzt wird auch sie sterben, und sie weiß es. Am Weihnachtsmorgen saß ich bei ihr. Ich hielt ihre Hand, während wir beide den Glocken lauschten.
Nicht lang danach kam die Oberschwester vorbei, rief mich zu sich und befahl mir, nach Hause zu gehen. Als ich sagte, ich würde gern freiwillig länger bleiben, schaute sie mich lange streng an. Ich weiß nicht, welche Farbe ihr Haar hat, ob es hell oder dunkel oder am Ende schlohweiß ist. Aber ihre Augen sind fast schwarz und glänzen hart wie nasse Steine.
»Signorina Cammaccio«, tadelte sie mich. »Sie gehen jetzt heim zu Ihren Eltern. Es ist Weihnachten.«
Und so ging ich heim.
Draußen kam ich mir verloren vor. Inzwischen bin ich die Krankenhausmauern gewohnt. Meine winzige Kammer und die Pritsche. Die Stadt kommt mir gleichzeitig zu verwinkelt und zu groß vor. Ich kann dort nicht absehen, was mich als Nächstes erwartet.
In letzter Zeit hat es kaum geschneit, aber die Straßen sind vereist. Darum ließ ich mein Fahrrad im Krankenhausschuppen stehen und ging zu Fuß. Es war kurz vor Mittag, alle waren zu Hause. Mir begegneten noch einige Passanten, aber auf den Plätzen waren nur noch deutsche Soldaten zu sehen. Einige Cafés und Restaurants hatten geöffnet, und die Soldaten kamen und gingen in Trauben. In ihren grauen und schwarzen Uniformen wirken sie wie Tauben und Krähen, deren keckerndes Lachen in der Kälte zersplittert.
Und dann entdeckte ich ihn, in einer Gruppe von fünf oder sechs Kameraden – Dieter.
Er sah mich im selben Moment. Er fuhr herum, als hätte ich an einem Faden geruckt. Seine Augen wurden groß. Er hatte bereits gelächelt und über einen Witz gelacht, aber jetzt erstrahlte ein ganz anderes Lächeln auf seinem Gesicht. Seine Hand hob sich, und sein Mund ging auf, als wollte er mich zu sich rufen.
Ich rannte los.
Ich verstieß gegen alle Regeln, die Issa mir eingeschärft hatte. Ich stürzte, so schnell ich konnte, in eine Gasse, wo ich prompt ausrutschte. Ich drehte mich um und sah, wie er mir nachschaute. Dann rappelte ich mich auf dem Eis wieder hoch, krallte mich am kalten Mauerwerk ein, um das Gleichgewicht zu halten, und rannte weiter, dem Fluss zu, obwohl ich sicher war, dass ich hörte, wie er meinen Namen durch die Straßen rief.
Issa erschien am selben Abend, nach Einbruch der Dunkelheit und scheinbar aus dem Nichts. Sie brachte Geschenke mit – für Papa eine Pfeife, die sie weiß Gott wo besorgt hatte, eine kleine perlenbestickte Tasche für Mama und eine Haarklammer für mich. Ich fragte sie nicht, woher sie stammte. Für sie hatte ich eine Brosche – eine winzige emaillierte Hummel, die Papa mir vor Jahren geschenkt hatte. Als wir noch klein waren, hatte Issa sie einmal aus meinem Schmuckkästchen gestohlen. Als ich sie ihr gab, ließ sie die Brosche in ihrer Hand liegen und sah mich dann an. »Bist du sicher?«, fragte sie.
Ich nickte, und sie schloss lächelnd ihre Hand.
Danach spielten wir im Wohnzimmer Karten und taten so, als würden wir uns amüsieren, bis wir das Radio anstellten und hörten, dass sowohl Pisa als auch Pistoia bombardiert worden waren. Schließlich erklärte ich, dass ich müde sei, ließ die anderen unten sitzen und ging nach oben.
Ich saß gerade an meinem Frisiertisch und bürstete mein Haar, als die Tür aufging und Issa hereinschlüpfte. Ich hatte nicht gehört, wie sie die Treppe heraufgekommen oder durch den Flur geschlichen war. Sie setzte sich ans Fußende meines Betts. Ich sah sie im Spiegel an. Sie hatte die Hummelbrosche an ihrem Aufschlag angebracht. Wir haben nie über jene Nacht in Fiesole gesprochen, sie hat nie gefragt, warum ich nicht im
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