Die Toten der Villa Triste
Dieters Lippen. Ich träume vom kalten Schnee. Von seinem schweren Atem. Von seinen Händen auf meinem Körper. Trotzdem sehe ich in diesen Träumen nie sein Gesicht. Stattdessen sehe ich das Gesicht der jungen Frau, die auf dem Boden des Krankenwagens sitzt, ihr kleines Mädchen in den Armen hält und mich mit Todesangst in den Augen anlächelt.
Il Corvo bin ich seitdem nicht mehr begegnet, und seit jener Nacht musste ich auch nicht mehr durch die Straßensperre. Es war Gott sei Dank die letzte Fahrt im Krankenwagen. Wenigstens bis im Frühjahr der Schnee geschmolzen ist. Und wer weiß, wo wir dann alle sein werden. Oder ob wir dann noch am Leben sind.
Issa ist wieder in der Stadt. Sie wohnt nicht zu Hause, aber ich weiß, dass sie Mama und Papa besuchen kommt. Ich weiß das nicht, weil sie es mir erzählt hat oder weil sie etwas gesagt hätten, sondern weil unsere Lebensmittelkarten verschwunden sind, wenn sie da war. Und, so gut wie jedes zweite Mal, ein paar von meinen Kleidern. Selbst eine meiner Ersatzuniformen ist weg. Ich weiß zwar nicht, was Issa vorhat, aber die kommt ihr bestimmt zupass. Carlo und Rico halten sich ebenfalls irgendwo in der Stadt auf. Allerdings habe ich keinen von den dreien gesehen. Ich weiß, dass das so sein muss, trotzdem sehne ich mich danach, Ricos Stimme zu hören. Es würde mich nicht einmal stören, wenn er mich wie früher herumkommandieren würde, solange ich nur nicht mehr das Gefühl hätte, dass alles in Scherben liegt. Aber ich weiß, dass das nur Hirngespinste sind. Es kann keine »Höflichkeitsbesuche« geben. Seit dem fünfundzwanzigsten November, an dem die »Amnestie« für die italienischen Truppen offiziell auslief, sind sie auf der Flucht. Vor den Deutschen, vor den Faschisten, vor jedem. Sie können als Deserteure oder Partisanen oder »feindliche Kämpfer« erschossen werden. Was für eine Auswahl.
Issa sagt, sie würden so gut wie jede Nacht woanders schlafen, und ich habe sie natürlich nicht gefragt, wo. Inzwischen lebt jeder von uns in seiner abgekapselten kleinen Welt und weiß nur noch das, was er wissen muss. Niemand spricht es je aus, aber uns allen ist bewusst, dass diese Ahnungslosigkeit, was das Leben unserer Mitmenschen betrifft, ein perverses Geschenk ist – es ist unser einziger Schutz. So können wir, wenn wir verhaftet werden, die Hände heben und aufrichtig erklären: »Ich weiß nichts, ich weiß nichts, ich weiß nichts.« Uns gegenseitig dreimal verleugnen, bevor der Hahn kräht.
Darum ist es auch richtig, dass ich nicht einmal Issas Namen kenne – jenen Namen, mit dem ihre Kameraden sie ansprechen, wenn sie dorthin verschwindet, wo für mich inzwischen »ihr anderes Leben« ist. Den Winter über sind sie alle aus den Bergen heruntergekommen, um mit den GAP zusammenzuarbeiten. Den Gruppi di Azione Patriottica. Issa spricht die Bezeichnung genauso aus wie Carlos Namen, so als wäre die Gruppe ihr zweiter Liebhaber. Die GAP, behauptet sie, werden »den Kampf zum Feind tragen«. Sie hat mir nicht erzählt – und auch das habe ich sie nicht gefragt –, wie das zu verstehen ist, trotzdem kann ich es mir vorstellen. Vergangenen Monat wurde der Führer der faschistischen Partei in Ferrara ermordet. Sein Leichnam lag auf einer Straße außerhalb der Stadt.
Bestimmt war das ein Triumph für sie. Aber falls wir in den vergangenen Monaten etwas gelernt haben, dann, dass alles seinen Preis hat. Zucker. Tee. Brot. Ein Menschenleben. Ferrara, hat sich herausgestellt, ist ein teures Pflaster. Am nächsten Tag wählten die Fascistoni willkürlich elf Menschen aus, verhafteten sie, führten sie an die Burgmauer und erschossen sie. Die Leichen blieben liegen, bis der Erzbischof den Anblick vor seinem Fenster nicht mehr ertrug und befahl, sie zu beerdigen.
Auch davon träume ich oft – von Leichen. Sie liegen im Schnee. Sie blicken mit aufgerissenen, toten Augen und einem Clownslächeln in die Sonne auf. Jeder von uns hat inzwischen genug getan, um bei ihnen zu liegen.
Aber nicht nur Kugeln können töten. Die lang gefürchtete Grippewelle hat uns inzwischen erreicht wie ein unerbetener Weihnachtsbesuch. Die Grippe scheint nicht so gefährlich zu sein, wie wir befürchtet hatten, aber sie findet reiche Beute unter den Alten, den Schwachen und Hungrigen. Und davon gibt es weiß Gott mehr als genug. Im Krankenhaus haben wir noch zu essen, und zu Hause können sich Mama und Papa über den Schwarzmarkt versorgen. Andere haben da nicht so viel Glück. Die
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