Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
Vom Netzwerk:
Krankenwagen saß, als er in den Schuppen zurücksetzte, und ich weiß nicht, wie viel Il Corvo ihr erzählt oder was sie sich zusammengereimt hat.
    Als ich sie im Spiegel ansah, klappte mein Mund auf. Ich spürte, wie die Worte herausdrängten, wie sie sich endlich Luft machen wollten. Ich war kurz davor, ihr alles zu erzählen – von Dieter und davon, was ich getan hatte, und dass ich meinte, ihn heute gesehen und ihn rufen gehört zu haben –, als sie vom Bett aufstand und meinen Kleiderschrank öffnete. Eine Hand an der offenen Tür, stand sie dort und schaute auf die leere Stange. Dann sagte sie: »Wo ist dein Hochzeitskleid?«
    Ich zuckte mit den Achseln. »Ich habe es weggepackt.«
    Sie sah mich an. Dann drückte sie die Schranktür wieder zu. Sie kam zu mir. »Rutsch rüber.« Sie schubste mich sanft und setzte sich dann ans Ende der Frisierbank. Einige Sekunden lang blickten wir in unsere Spiegelbilder. Dann streckte Issa die Hand aus, nahm mir die Bürste ab und begann, mein Haar zu bürsten. »Es ist viel schöner als meins«, sagte sie. »Wie schwarze Seide.«
    Das war Unfug. Niemand hat so schönes Haar wie Issa. Ich wollte das schon sagen, aber ich konnte es nicht. Im Spiegel sah ich Tränen über meine Wangen fließen.
    »Habt ihr sie rausgebracht?«, fragte ich schließlich. »Die Familie? Mit den beiden Jungen und das Mädchen mit dem Kleinkind?«
    Issa nickte. Sie bürstete weiter, einen Strich nach dem anderen.
    »Alle? Werden sie es schaffen?«
    »Ja«, sagte sie. Dann legte sie die Bürste weg und nahm mich in die Arme. »Er ist am Leben«, flüsterte sie. Ich spürte ihre Lippen an meinem Ohr. »Cati, Lodovico ist noch am Leben. Ich kann es spüren.«
    Ich hob die Hand und legte sie auf ihre. Dann drückte ich, so fest ich konnte. Und schloss die Augen. Tränen sickerten unter meinen Lidern hervor, liefen mir über die Wangen und vermischten sich mit Issas Atem, der so warm und ruhig ging wie der langsame Schlag ihres Herzens.
    Neujahr kam und ging, ohne dass wir gefeiert hätten. Ich versuchte es nach bestem Vermögen zu ignorieren, aber vergebens. Vor einem Jahr hat Lodovico mich gefragt, ob ich ihn heiraten würde. Er ging mit mir ins Excelsior. Wir tanzten. Als er mir den Ring gab, sank er auf ein Knie und fragte mich, ob ich ihm »die Ehre erweisen« würde, seine Frau zu werden. Die Gäste am nächsten und übernächsten Tisch klatschten, als ich »Ja« sagte.
    Was würde ich wohl sagen, wenn ich ihn jetzt sähe?
    Ich weiß beim besten Willen keine Antwort darauf. Darum habe ich den Morgen damit verbracht, möglichst nicht an ihn zu denken und stattdessen die Laken zu flicken – eingeschlossen in meiner Kammer, wo ich gestopft und genäht und auf Schritte vor der Tür gelauscht habe –, während ich mir gleichzeitig alle Mühe gab, mich nicht zu fragen, wie all das geschehen konnte. Wie unsere Welt so auf den Kopf gestellt werden konnte. Immer wieder geht mir durch den Kopf, wie wir letzten Sommer alles verspielten – wie wir alle Gelegenheiten ungenutzt verstreichen ließen. Wie wir nicht aus Florenz weggezogen sind und wie Italien nichts unternahm, um die Deutschen außer Landes zu halten. Wir blieben einfach sitzen, wie selbstzufriedene Kinder, so stolz und eitel, nur weil wir die Faschisten losgeworden waren, dass wir tatsächlich glaubten, jetzt würde Friede herrschen.
    Je länger ich darüber nachdachte, desto wütender wurde ich, bis ich mir mehrmals in den Daumen stach und schließlich die Arbeit unterbrechen musste, um nach einem Fingerhut zu suchen.
    Donata Leone ist inzwischen nicht mehr ganz so schwach und kann gut nähen. Als ich schließlich einen Fingerhut aufgetrieben und wieder zu flicken angefangen hatte, setzte sie sich zu mir neben den Ofen am Ende der Krankenstation, wo wir schweigend nebeneinander Laken nähten und die Nadeln aufblitzen ließen wie zwei alte Frauen auf ihrer Türschwelle. Von Zeit zu Zeit erzählte sie von ihren Angehörigen in Genua, die alle gestorben sind. Daneben wirken mein Groll und mein Selbstmitleid lächerlich.
    Ich ermahnte mich, dass wir immerhin noch alle am Leben sind – und zudem ein Heim und eine Familie haben –, und so fuhr ich am Abend des Befana-Festes nach Hause. Aber wie alles andere wurde auch dieses Fest auf den Kopf gestellt. Weil Enrico zu Hause war und ich, statt mich über das unerwartete Wiedersehen zu freuen, zum ersten Mal seit unserer Kinderzeit mit ihm stritt. Ich hatte ihn seit Monaten nicht mehr gesehen –

Weitere Kostenlose Bücher