Im Jahre Ragnarök
25. Februar 1962, Britisch-Indien
Die Sonne brannte erbarmungslos. Zwischen den trockenen Feldern, die sich bis zu den fernen Hügelketten hinzogen, marschierte auf der zerfurchten Straße schweigend eine Kompanie Gurkhas. Schon vor einigen Meilen hatten die Elitesoldaten aus dem Himalaya ihre Lastwagen zurückgelassen, um sich nicht durch den Motorenlärm und die aufgewirbelten Staubwolken vorzeitig zu verraten. Sie trugen die Lee-Enfield-Karabiner schussbereit und mit aufgepflanzten Bajonetten. Aus dem Schatten der breitkrempigen Buschhüte spähten die mandelförmigen Augen der Männer unentwegt nach allen Seiten aus.
An der Spitze der Kolonne ging neben dem Captain der Gurkhas ein Zivilist von vielleicht vierzig Jahren. Sein Anzug war längst durchgeschwitzt; im feuchten Baumwollgewebe, das am Morgen noch weiß gewesen war, hatte sich feiner rötlicher Sand in hässlichen Flecken festgesetzt. Vergeblich versuchte der Mann, sich mit seinem Hut Kühlung zuzufächeln oder wenigstens die aufdringlichen Fliegen zu verscheuchen. Der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht, verband sich mit dem allgegenwärtigen Staub zu einer schmierigen Flüssigkeit, die dann zu allem Überfluss auch noch den Hals hinab in den Hemdkragen rann. Und trotzdem lächelte er zufrieden. Dieser Tag, dessen war John Tubber sich gewiss, würde ihm nach Wochen und Monaten harter Arbeit endlich den verdienten Triumph bringen.
Rajiv konnte nicht mehr entkommen. Der Mann, der seit Jahren die Inder gegen die britische Kolonialherrschaft aufwiegelte, würde in weniger als einer halben Stunde unschädlich gemacht sein. Er mochte mit seinen bewaffneten Banden vielleicht das unzugängliche Aravalli-Gebirge beherrschen, aber nun hatte er sich wieder einmal aus dem Schutz seines Machtbereichs begeben, um die Menschen in den Dörfern südlich von Neu-Delhi mit seinen Reden aufzuhetzen. Tubber hatte das von Anfang an vorauskalkuliert. Und dank seiner Nachforschungen und Schlussfolgerungen wusste er schon seit Langem, dass Rajiv an diesem Tag in Chowdhury sein würde. Die Falle konnte zuschnappen.
»Ist es auch tatsächlich sicher, dass Rajiv sich heute in Chowdhury aufhält, Sir?«, fragte der Gurkha-Offizier den Engländer.
»Aber natürlich, Captain Singh«, versicherte Tubber selbstsicher. »Daran kann nicht der geringste Zweifel bestehen.«
Der Gurkha nickte wortlos. Sein Gesicht zeigte keinen besonderen Ausdruck, aber Tubber hatte genügend Zeit seines Lebens im Orient verbracht, um die Gedanken des Mannes erahnen zu können: Der ganze Einsatz schmeckte dem Captain nicht. Er zweifelte nicht nur am Erfolg der Operation, ihm missfiel auch, dass er von einem Geheimdienstoffizier des britischen Joint Intelligence Service herumkommandiert wurde, von einem Mann, über den ihm nahezu nichts bekannt war, nicht einmal der Name.
Wenn er wüsste, dass ich bloß Second Lieutenant bin ... , dachte Tubber. Aber er behielt es selbstverständlich für sich. Nicht aus Rücksicht auf den Stolz des Gurkhas, sondern weil es die Vorschriften so verlangten. Man hatte den eigentlich ranghöheren Offizier für diesen Einsatz seinem Befehl unterstellt, und das genügte.
Mehr brauchte niemand zu wissen.
»Wir sind da«, sagte der Captain. »Das dort am Ende der Straße ist Chowdhury.« Er zeigte auf eine Handvoll verfallener Hütten, die in der hitzeflimmernden Luft kaum zu erkennen waren. John Tubber kniff die Augen zusammen, um die zerfließenden Konturen der gelblich braunen Gebäude auszumachen. Es fiel ihm nicht leicht, seine Aufregung zu verbergen. Das Ziel, sein Ziel, lag nun zum Greifen nah.
In diesem verlassenen Dorf inmitten einer staubigen Einöde hatte Rajiv sein Lager aufgeschlagen und ahnte nicht, dass sein Schicksal bereits besiegelt war. Der Aufrührer konnte nicht mehr entkommen. Das Dorf lag in einer engen Flussschleife, kein Weg führte über das schlammige Flussbett. Alles das hatte Tubber in seinen Plan einbezogen.
»Jetzt haben wir ihn in die Ecke gedrängt«, meinte der Engländer und ballte triumphierend die Fäuste. »Was nun kommt, fällt in Ihr Ressort, Captain. Übernehmen Sie den Rest.«
»Zu Befehl, Sir«, bestätigte der Gurkha-Offizier. Er hob den Arm, woraufhin die Kompanie zu beiden Seiten der Straße ausschwärmte. Sie bildeten eine breite, lockere Linie und rückten langsam in Richtung des Dorfes vor. Tubber blieb zurück und verfolgte alles durch sein Fernglas.
Auf diesen Tag habe ich viel zu lange warten müssen , dachte er.
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