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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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und was tat ich? Ich zeterte wie ein altes Fischweib. Ich hätte ihn geschlagen, wenn Papa mich nicht zurückgehalten hätte.
    Eigentlich will ich es gar nicht aufschreiben, aber ich muss. Während meines Nähanfalls öffnete ich auch einen Saum in meiner Jacke und nähte eine kleine Geheimtasche für dieses Buch ein – damit es niemand entdeckt und damit ich es immer bei mir tragen kann, versteckt und dicht an meiner Haut, fast wie ein härenes Hemd. Das Schreiben ist mir zu einer Art Buße geworden. Worte wie Peitschenhiebe, die erst aufhören, wenn das Blut fließt.
    Als wir noch Kinder waren, bekamen wir am sechsten Januar immer die Geschenke und teilten unsere aus – und jedes Mal rannten wir nachts in den Garten und hielten Ausschau nach dem Stern, der nie wirklich direkt über uns leuchtete. Also glaubte ich, dass Enrico heimgekommen war, um uns mit seinem Besuch zu segnen wie einer der Heiligen Drei Könige. Aber das war es nicht, das erkannte ich, sobald ich ihnen ins Gesicht sah, Mama, Papa und Rico. Sie saßen zu dritt am Küchentisch, als ich eintrat. Issa war nicht dabei.
    Ich hatte ihn nicht einmal geküsst oder auch nur begrüßt oder ihn gefragt, wie es ihm ging. Ich hatte immer noch den Mantel an. Meine Finger hielten im Knöpfen inne.
    »Was ist denn?«, fragte ich. »Was ist los? Was ist passiert?«
    Ich spürte, wie der Boden unter meinen Füßen ins Wanken geriet. Ich glaubte, sie würden mir gleich eröffnen, dass Issa gestorben war. Oder dass jemand endlich von Lodovico gehört hatte und dass er gefallen oder in Gefangenschaft war. Aber es war etwas ganz anderes.
    Schließlich stand Papa auf und zog einen Stuhl heraus.
    »Setz dich, Cati«, sagte er. Dann drehte er sich um, lächelte und klatschte in die Hände. »Ich habe bestimmt noch irgendwas«, sagte er, »im Keller. Sollten wir nicht anstoßen? Zur Feier des Tages?«
    Ich wollte schon fragen: »Was gibt es zu feiern?« Dann sah ich stattdessen Rico an.
    Im ersten Moment wich er meinem Blick aus. Er sah angestrengt auf seine Hände – die inzwischen schmutzig und rissig sind. Als er schließlich den Kopf hob, als sein Blick nach oben ging und auf meinen traf, wusste ich Bescheid.
    Ich stand so wütend auf, dass ich um ein Haar den Stuhl umgestoßen hätte.
    »Issa hat es mir versprochen.« Ich hörte, wie meine Stimme anstieg, wie sie lauter und schriller wurde. »Sie hat es mir versprochen«, wiederholte ich vergeblich, als würde das etwas bedeuten. »Sie hat es geschworen! Auf der Brücke. Ich habe sie schwören lassen, dass nie wieder … Nicht hier. Nicht in diesem Haus …«
    Ich wusste nicht, worum es ging. Ich wusste nicht, ob sich wieder Kriegsgefangene im Keller oder auf dem Speicher versteckten – aber ich wusste, sobald Rico mich ansah, dass er nur deswegen gekommen war. Nicht wegen der Befana. Nicht wegen der Geschenke.
    Mama stand schließlich auf und nahm mich an den Schultern.
    »Cati«, sagte sie. »Bitte, Cati.«
    Ihr Blick zwang mich zurück auf meinen Stuhl. Wie betäubt blieb ich sitzen, während Gläser geholt wurden und Papa eine Flasche öffnete und wir alle uns mit erhobenem Glas zuprosteten. Salute. Ich trank sogar, ich leerte mein Glas in einem einzigen Schluck, auch wenn ich nicht mehr weiß, was darin war. Dann klärten sie mich auf.
    Es ging weder um Kriegsgefangene noch um Flüchtlinge. Sondern um ein Radio. Aber nicht irgendein Radio. Sondern um ein ganz besonderes amerikanisches Funkgerät. Die Amerikaner lassen sie per Fallschirm den Partisanen zukommen. Die Übertragungen aus England sind zu unzuverlässig und zu langsam, als dass sie dem alliierten Kommando im Süden helfen könnten. Die Truppen stecken fest, sie sitzen im Lirital bei Monte Cassino, aber bald kommt der Frühling, und sie werden Informationen brauchen, wenn sie zum Durchbruch ansetzen. Informationen über die Deutschen – alles, was wir in Erfahrung bringen können –, hauptsächlich über ihre Truppenstärken. Und die Standorte der Munitionslager. Die Soldaten und Panzer, wie viele es sind, zu welcher Division sie gehören und in welche Richtung sie sich bewegen. Vor allem aber wollen sie wissen, wo die Stadt befestigt und vermint wurde. Dieses Wissen ist entscheidend für »die Befreiung«.
    Ich sah Mama an, doch die wich meinem Blick aus. Sie senkte den Kopf und spielte am Stiel ihres Glases herum.
    »Papa?«, fragte ich.
    Mein Vater sieht in letzter Zeit unendlich müde aus. Manchmal erinnern nur die großen blauen Augen hinter

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