Die toten Frauen von Juárez
übergab er sich in einer Ecke und würgte, bis er nichts mehr aus seinem Magen zu Tage förderte. Der Geruch seines Erbrochenen war nichts im Vergleich zu dem Kohlenwasserstoffgestank der Fässer.
Das Sonnenlicht verfehlte seine reinigende Wirkung. Sevilla spürte das Innere der Halle kribbelnd auf der Haut, unter dem Anzug, im Haar. Abermals hörte er das metallische Kreischen und konzentrierte sich ganz darauf, denn es war normal und gewöhnlich und holte ihn in eine Welt zurück, in der Männer arbeiteten und ihre Familien ernährten und niemals auch nur in die Nähe eines Ortes wie diesem kamen.
Nach einer ganzen Weile hob er die durchgeschnittene Kette wieder auf und wickelte sie um den Griff der Außentür. Aus der Nähe hätte er damit keinen täuschen können, doch aus der Ferne sah sie genauso aus, wie Sevilla sie vorgefunden hatte. Er stellte fest, dass er den Bolzenschneider im Inneren vergessen hatte, scherte sich jedoch nicht darum und ging weiter die Treppe hinunter zur Straße. Er schwitzte stärker, als es die Temperaturen an diesem Tag rechtfertigten.
SECHZEHN
Zwei Meilen entfernt fand Sevilla eine Drogerie, die sich seit den 1960er Jahren nicht mehr verändert zu haben schien. Es gab noch einen Essenstresen, wo ein alter Mann Limonade aus einer verschnörkelten Anlage mit verchromten Hähnen zapfte. Sevilla bestellte eine Mahlzeit, die er eigentlich nicht mochte, und zwang sich abzubeißen, zu kauen und zu schlucken, bis er den Teller geleert hatte.
Er legte den Rechnungsbetrag samt Trinkgeld auf den Tresen. Sein Telefon läutete.
»Sevilla«, meldete er sich.
»Hier ist Palencia.«
»Enrique«, sagte Sevilla. Er hoffte, dass er sich am anderen Ende der Leitung nicht so vollkommen niedergeschlagen anhörte. »Wo sind Sie?«
»Auf der Rückfahrt. Ich habe mit Rojas gesprochen.«
In der Sonne schmerzten Sevillas Augen wieder. Die Kopfschmerzen meldeten sich zurück. Er hatte ein Fläschchen Aspirin in der Tasche, zermalmte zwei Tabletten zwischen den Zähnen und ertrug den abscheulich bitteren Geschmack, da er besser war, als sich auf die Schmerzen in seinem Kopf zu konzentrieren.
»Sind Sie noch da?«, fragte Enrique. »Hören Sie mich?«
»Ich bin da«, antwortete Sevilla.
»Ich habe mit Rojas gesprochen. Er weiß es, Rafael. Er weiß alles. Ortíz …«
»Sie müssen es mir nicht erzählen«, unterbrach Sevilla ihn. »Das müssen Sie nicht.«
»Was meinen Sie damit? Was geht bei Ihnen vor?«
»Ich habe Ortíz getötet«, sagte Sevilla.
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Sevilla hörte das Knistern eines gestörten Signals und das Phantomflüstern von Anrufern, die hunderte Meilen entfernt waren. Schließlich räusperte Enrique sich. »Was ist passiert?«
»Er hat mir alles erzählt«, antwortete Sevilla.
»Was ist
passiert
?«
»Ich habe die Halle gesehen. Ich war drinnen. Ich habe gesehen, wo sie es machen, Enrique. Es geschieht mitten in der Stadt, alles. Die haben vor gar nichts Angst.«
»Die Madrigals …«, begann Enrique wieder.
»Für Sie spielt das alles keine Rolle mehr. Hören Sie mir zu, Enrique. Hören Sie gut zu: Ich möchte, dass Sie aufhören. Sie sollten nichts mehr mit alledem zu tun haben. Es wird kein gutes Ende nehmen. Stecken Sie die Nase wieder in Ihren Papierkram. Bei La Bestia sind Sie sicherer.«
Sevilla hörte den Automotor im Hintergrund. Er hörte auch die zunehmende Nervosität in Enriques Stimme. »Was haben Sie vor?«
»Für mich ist es zu spät«, sagte Sevilla und klappte das Telefon zu.
Enrique rief dreimal zurück, aber Sevilla nahm die Anrufe nicht mehr entgegen. Er machte einen Spaziergang, hing seinen Gedanken nach und schlängelte sich zwischen den Straßenhändlern und Bauernständen hindurch, bis er wieder bei seinem Auto anlangte.
Er wollte mit Enrique reden, weil es sonst niemanden gab. Ein anderer Teil von ihm dachte daran, dass er zu Kelly gehen sollte, da er vielleicht keine Möglichkeit mehr hätte, ihm alles zu erklären. Wenn Kelly aufwachte –
falls
er aufwachte, ermahnte Sevilla sich –, gab es keinen, der ihm die Geschichte mit Paloma erklären konnte. Aber vielleicht wäre es besser so. Denn sollte Kelly jemals aufwachen, würden sie alles ihm anlasten. El Cereso wäre ein Paradies, verglichen mit dem Dreckloch, in das sie einen Amerikaner stecken würden, der eine mexikanische Frau vergewaltigt und ermordet hatte.
Als er diesmal in dem Viertel ankam, parkte er vor dem Mietshaus, das ihm zuvor schon
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