Die toten Frauen von Juárez
Bauern kamen mit ihrer Ernte in die Stadt und verkauften sie fast zu Großhandelspreisen. In ganz Juárez bot man Kleidung, Spielsachen und anderen Krimskrams auf den Bürgersteigen feil.
»
Hola,
Señor Sevilla«, rief eine von Sevillas Nachbarinnen.
Sevilla lächelte und winkte der alten Frau zu. Ihre Tochter und die sieben Enkelkinder kamen sie jeden Samstag besuchen. Einmal waren auch Ana und Ofelia dabei gewesen, aber nur einmal. »
Hola,
Señora Pérez.«
»Seien Sie vorsichtig!«, beschwor ihn Señora Pérez.
»Bin ich.
Gracias.
«
Er fuhr an den Kindern mit den Fahrrädern vorbei, als er das Viertel hinter sich ließ und sich in den Strom der Autos und Lastwagen einfädelte, und fuhr von seinem Haus aus nach Osten, zu einer Adresse, die ihm ein Mann gegeben hatte, bevor er auf dem Boden einer Toilette gestorben war.
Er fand das Gebäude in einer Gegend, wo Wohn- und Geschäftshäuser kunterbunt durcheinanderlagen, eine schäbige Ansammlung von Gebäuden, die von Alter und Verwahrlosung gezeichnet waren. Aus Werkstätten ergossen sich halb schrottreife Autos auf Parkplätze mit Sturmzäunen und doppelten Stacheldrahtrollen. Werkshallen ragten unmittelbar neben verfallenen Mietskasernen empor. Kein Viertel mit Restaurants,
grocerías
und vereinzelten kleinen Häusern als Überbleibsel früherer Generationen. Die vorherrschenden Farben waren Aschgrau und Rostrot auf Aluminiumwellblech und fleckigem Beton.
Als Sevilla zum ersten Mal an dem Haus vorbeifuhr, machte es einen so normalen und unscheinbaren Eindruck wie alle anderen ringsum. Es ruhte auf einem schweren Fundament, ein Klotz aus Beton und Hohlblocksteinen mit großen, sechsfach unterteilten Werkshallenfenstern, die sich öffnen ließen, damit die heiße Luft aus dem Inneren entweichen konnte. Einst hatte ein langes Firmenschild aus Metall über Verladerampe und Rolltür am Ende der Halle geprangt, jetzt war nur noch eine Ecke davon übrig, die an der Fassade festgeschraubt war. Ketten sicherten dieTüren. Seitlich davon befand sich ein Personaleingang mit vernageltem Fenster.
Selbst als er sich ganz sicher war, fuhr Sevilla noch einmal um das Gebäude herum. Er betrachtete die umliegenden Häuser, speziell eine zweistöckige Mietskaserne, ein Eckhaus auf der anderen Straßenseite, fünfzig Meter entfernt. Dort gab es Fenster, von denen man schräg auf die Halle hinabsehen konnte. Sevilla merkte sich das für später.
Er parkte unweit dieses Mietshauses am Bordstein und ging zu Fuß zu seinem Ziel. Irgendwo hörte er Metall auf Metall krachen und unverkennbaren Maschinenlärm, vermochte jedoch nicht zu sagen, aus welcher des halben Dutzends Fabrikhallen, die zur Auswahl standen, die Geräusche kamen. In Ciudad Juárez standen die Räder niemals still, nicht einmal für samstägliche Vergnügungen, und selbst an Sonntagen legte man nur kurze Pausen ein, ehe die alltägliche Routine wieder begann.
Im Gegensatz zu seinem Viertel gab es hier ganze Straßenzüge, die menschenleer wirkten. Auf einem brachliegenden Grundstück wuchsen dichte Grasbüschel. Sie verbargen Rechtecke, bei denen es sich um Reste des Betonbodens eines lange abgerissenen Hauses handeln mochte. Einige wenige Autos standen am Bordstein, doch alles in allem schien die Atmosphäre der Verlassenheit fast allumfassend zu sein. Nicht weit entfernt lag ein Industriegebiet mit zwei großen
maquiladoras;
Sevilla schätzte, dass er in zwanzig Minuten bei Kellys Apartment sein könnte, wenn er die Strecke kennen würde.
Lange Zeit blieb er vor dem Gebäude stehen. Er wollte es nicht betreten, auch wenn er wusste, dass es sich nicht vermeiden ließ. Er wünschte sich ein offenes Fenster im Erdgeschoss, fand jedoch keines. Sevilla umrundete die Halle und schritt durch eine schmale Gasse zwischen diesem und dem benachbarten Bauwerk. Hier war der Boden so festgestampft, dass selbst Gras kaum gedieh. Er fand ein weiteres zugenageltes Fenster.
Hinter der Fabrik lag ein großes grasbewachsenes Grundstück. Die Erkenntnis traf Sevilla mit solcher Wucht, dass er sich mit einer Hand an der Wand abstützen musste. Eine braun-weiße Linie in der Ferne wies den Apartmentkomplex aus, wo Kelly wohnte. Was die Wiese selbst betraf …dort hatte Sevilla Palomas Leichnam gesehen. Er hatte einen sauren Geschmack im Mund und verspürte Zorn.
Eine doppelte Reifenspur führte von den Rolltüren an der Rückseite der Halle quer über dieses Grundstück. Es hatte eine ganze Weile schon nicht mehr geregnet,
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