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Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hawken
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aufgefallen war. Er überlegte, ob er das Auto verstecken sollte, doch das schien ihm überflüssig zu sein; niemand kannte ihn hier, niemand würde darauf achten.
    Das kleine Gebäude umfasste sieben Mietwohnungen, jede durch einen kleinen Papierstreifen und einen Klingelknopf kenntlich gemacht. Sevilla läutete im ersten und zweiten Stock, sagte aber nichts, wenn jemandüber die Sprechanlage antwortete. Im dritten Stock öffnete jemand, ohne nachzufragen. Sevilla trat ein.
    Der Flur war schmal, der enge Raum vor den Briefkästen roch durchdringend nach dem Essen vom Vortag. In einem so alten Gebäude gab es keinen Fahrstuhl. Sevilla stieg die Treppe hinauf. Er hörte Radios und Fernseher und Bewohner, die sich lautstark unterhielten. Im dritten Stock begab er sich zur vordersten Wohnung und klopfte.
    Sevilla wartete, bis ein steinalter Mann die Tür öffnete. Der Mann betrachtete Sevillas geschwollenes Gesicht durch den Spalt zwischen Rahmen und Türkante. Die Tür war mit einer Messingkette gesichert. Der Mann maß Sevilla von oben bis unten mit Blicken. »Was wollen Sie?«, fragte er.
    »
Policía.
Mein Name ist Sevilla. Hier ist mein Dienstausweis. Öffnen Sie die Tür.«
    Mit zusammengekniffenen Augen studierte der alte Mann Sevillas Ausweis und Marke. Sevilla sah einen Gedanken über das Gesicht des Mannes huschen – Tür zuschlagen und die Polizei rufen –, doch schließlich löste er die Sicherungskette und ließ Sevilla ein.
    Das Apartment war klein, aber wegen des großen Fensters an der Vorderseite sehr hell. Der steinalte Mann besaß einen vorsintflutlichen Schwarz-Weiß-Fernseher, und ein tragbarer Plattenspieler stand auf einem Klapptisch. An einer abgewetzten Couch stand ein winziger Beistelltisch, auf dem Spielkarten ausgebreitet lagen.
    »Ich habe nichts Unrechtes getan«, sagte der steinalte Mann.
    »Das behauptet auch keiner«, antwortete Sevilla.
    Er sah zum vorderen Fenster hinaus. Unten stand sein Auto, dann kam die Straße, dann das schreckliche Gebäude. Der Winkel war nicht perfekt, Sevilla hatte keine komplette Sicht auf die Halle, aber für seine Zwecke reichte es aus, er wollte sich nicht beschweren.
    Als Sevilla sich zu dem steinalten Mann umdrehte, sah er in ein ängstliches Gesicht. »Keine Sorge. Ich mache Ihnen keine Schwierigkeiten. Aber ich muss eine Weile hierbleiben. Tut mir leid.«
    »Wonach suchen Sie? Ich habe nichts hier.«
    Sevilla winkte den steinalten Mann näher. Das Telefon in seiner Tasche vibrierte. Das war Enrique. Er schenkte dem Anruf keine Beachtung. »Kommen Sie her. Sehen Sie die Halle da drüben?«
    »Ja.«
    »Ist Ihnen dort jemals etwas aufgefallen? Dass Leute kommen und gehen?«
    Der steinalte Mann dachte eine Weile nach, dann nickte er. »Manchmal sehe ich viele Autos. Nachts, wenn alle anderen nach Hause gegangen sind. Schicke Autos. Aber ich achte kaum auf so etwas,
Señor.
Ich kümmere mich um meine Angelegenheiten.«
    »Gewiss. Wann kommen die Autos?«
    Wieder dachte der steinalte Mann nach. »Manchmal jeden Monat. Nicht so oft, wenn es kalt ist.«
    »Heute Abend kommen sie wieder«, sagte Sevilla. »Ich beobachte sie.«
    »Sind es
narcotraficantes
? Ich schaue Nachrichten. Ich weiß, die sind überall.«
    »So ist es«, log Sevilla. »Und wenn heute Abend alles gut geht, sehen Sie sie nie wieder.«
    »Gut«, sagte der steinalte Mann. »Solche wie die brauchen wir hier nicht.«
    Sevilla bat den Mann, ihm einen Stuhl ans Fenster zu bringen und einen der kleinen Klapptische für den Notizblock und das Telefon. Der Mann brachte Sevilla noch unaufgefordert etwas zu essen, und Sevilla aß auch diese Mahlzeit, obwohl er keinen Hunger hatte.
    Sonst hatten sie einander nichts zu sagen. Der steinalte Mann widmete sich wieder seiner Patience. Von Zeit zu Zeit mischte er die Karten und ließ sie durch Hände mit großen Knöcheln gleiten, die arthritisch aussahen, es aber unverkennbar nicht waren. Sevilla betrachtete den Mann und sah sich in zwanzig Jahren, wenn er in zwanzig Jahren noch lebte. Gar nicht so schrecklich, wie er es sich vorgestellt hatte.
    »Wie heißen Sie?«, fragte Sevilla den steinalten Mann schließlich.
    »Rudolfo.«
    »Danke, Rudolfo.«
    »De nada.«
    Von Zeit zu Zeit fuhr ein Auto durch die verlassene Straße, und Sevilla erstarrte, doch keines hielt an. Die Sonne wanderte über den Himmel, ließ den Nachmittag ausbluten und die Schatten wandern. Schließlich sah Sevilla einen Lexus um die entfernteste Ecke kommen und vor der Halle

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