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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
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beinhart auf eine Karriere in der Modewelt konzentriert, war diese Enthüllung kein größerer Schock gewesen. Sie fand es eigentlich ziemlich cool. Manchmal, wenn Tatia tagträumte, sah sie vor ihrem inneren Auge Philippe bei ihrer ersten, selbstverständlich erfolgreichen Modenschau auf einem Ehrenplatz sitzen. Es war erheblich schwieriger, sich dort Bernadette vorzustellen, ganz zu schweigen von Bert, der ihre Modeträume als Teenagerspleens betrachtete, die sie baldmöglichst vergessen sollte. Er meinte, sie sollte eine kaufmännische Ausbildung absolvieren und dann in Demeesters Delikatessen, Berts erfolgreicher und expandierender Kette von Delikatessengeschäften, zu arbeiten beginnen.
    Kaufmännische Ausbildung! Tatia schnaubte bei dem Gedanken vor sich hin. Das Schnauben ging in ein Niesen über, als sie der Staub von den alten Koffern in der Nase kitzelte.
    Sie nahm den grauen Überzieher vom Kofferdeckel, umsich die Näharbeit genauer anzusehen. Er mußte fast maßgeschneidert sein. Ja, da war ein diskretes Etikett von einer Schneiderei in Uccle. Tatias Großeltern väterlicherseits hatten in Uccle gewohnt. Sie hängte den Überzieher zurück und sah die übrigen Kleidungsstücke im Koffer durch. Das meiste schien von derselben Schneiderei zu kommen. Beinah alles konnte sie verwenden. Denise hatte gesagt, sie dürfe nehmen, was sie wolle, aber sie hatte wohl nicht gemeint, daß sie alles nehmen durfte? Sie mußte warten, bis Denise zurückkam, und fragen.
    Die Türklingel bimmelte, als habe jemand an der Tür gerissen, ohne sie zu öffnen. Konnte das schon Denise sein? Nein, sie hatte ja Schlüssel. Es war vielleicht das beste, nachzusehen, wer es war.
    Tatia fing an, die Wendeltreppe hinaufzusteigen, aber irgendein Instinkt sandte in ihrem Nervensystem ein schrilles Warnsignal aus und ließ sie mit heftig klopfendem Herzen auf halbem Weg stehenbleiben. Wo sie im Dunkeln stand, sah sie den unteren Teil der Ladentür, und hinter dem satinierten Glas sah sie undeutlich eine Gestalt, anonym und schattenähnlich. Die Türklinke bewegte sich abwärts, langsam, langsam. Dann hörte sie plötzlich Schritte und laute Stimmen auf der Straße, die Bewegung der Klinke brach ab, und die Gestalt verschwand von der Tür.
    Tatias Herz wurde ruhiger und begann, wieder normal zu schlagen. Sie begriff nicht, was ihr zugesetzt hatte. Es war wohl nur ein Stammkunde gewesen, der gehofft hatte, nach Ladenschluß eingelassen zu werden. Sie kehrte zu den Schätzen im Keller zurück und richtete die Aufmerksamkeit auf den zweiten Koffer. Sie sah sofort, daß er Damenkleider enthielt. Zitternd vor Erregung sah sie Schichten aus mattem Wollcrêpe, blankem Satin und grobem Tweedin den Farben Puderrosa, Flaschengrün, Safrangelb und einem tiefen, fast schwarzen Tintenblau. Sie nahm das puderrosafarbene Stück heraus und entfaltete es mit einem nahezu andächtigen Gefühl. Es war ein perlenbesticktes Abendkleid, schräggeschnitten im typischen Dreißiger-Jahre-Stil. Leider überhaupt nichts für sie selbst, und es würde auch Martine nicht stehen. Die Farbe wäre recht apart an ihrer rotblonden Mutter, aber Bernadette interessierte sich selten für Tatias Funde, und außerdem wäre ihr das Kleid zu klein. Denise van Espen dagegen, fiel ihr plötzlich ein, würde phantastisch darin aussehen. Sie sah es vor sich wie ein Bild in einer Modezeitschrift – Denise, die dunklen Haare im Dreißiger-Jahre-Stil frisiert, lässig an ein Piedestal gelehnt, mit einer Zigarettenspitze in der Hand und den Antiquitäten im Laden als Hintergrund. Sie mußte Denise das Kleid zeigen und sich erbieten, es zu ändern, so daß es perfekt paßte.
    Tatia hängte das Kleid auf und nahm das nächste Kleidungsstück heraus, ein Kleid im Schottenmuster mit kurzen Ärmeln und abnehmbarem weißen Kragen. Es sah aus, als wäre es eher für ein Schulmädchen gemacht als für die überkultivierte erwachsene Frau, die das puderrosafarbene Abendkleid getragen hatte. Der Stoff war fein, aber das Modell ziemlich trist. Nichts, was man sich näher ansehen mußte.
    Als sie das Kleid zusammenfaltete, um es wieder in den Koffer zu legen, spürte sie, daß etwas in der säuberlich genähten Brusttasche steckte. Sie tastete neugierig danach und zog es heraus.
    Es war ein quadratisches, schwarzweißes Foto, das zwei Mädchen in Tatias Alter darstellte, das eine blond und das andere dunkelhaarig. Der Kleidung und den Frisuren nachwar es in den vierziger Jahren aufgenommen worden.

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