Die toten Mädchen von Villette
er an Simone bei der Gestapo denken.
Er sah zum Fenster hinauf. Jetzt stand auch Renée da, die dunklen Haare wie eine Wolke um das Gesicht. Renée bedeutete ihm überhaupt nichts. Sie war nur ein Anhängsel von Simone, und in seiner neuen Simone-losen Welt existierte sie nicht einmal als ein Staubkorn. Aber sie lächelten ihm beide zu, und Simone winkte ihm, er solle hereinkommen. Er öffnete die Gittertür, ging die wohlbekannten Schritte den Gartenweg hinauf.
Er hatte sich noch nicht entschieden. Noch nicht.
KAPITEL 1
Samstag, 11. Juni 1994
Brüssel
Denise van Espen ging mit schnellen Schritten die Rue des Minimes entlang. Sie war wütend, so wütend, daß sie wie eine Furie vorwärtsmarschierte, ohne sich von ihrem engen Rock und ihren hohen Absätzen aufhalten zu lassen. Sie mußte sich beruhigen, dachte sie. Eric Janssens war einer ihrer besten Kunden. Sie konnte nicht zu einem ihrer besten Kunden nach Hause kommen und ihn beschimpfen. Aber warum mußte er sie ausgerechnet heute im Stich lassen? Max, ihr Mann, hätte schon zur heutigen Auktion in Gent unterwegs sein müssen, um Geschäfte mit dem Geld zu machen, das Eric Janssens für das Fernand-Toussain-Gemälde, zu dessen Kauf er sich nach langem Zögern entschlossen hatte, bezahlen sollte. Um zehn Uhr hätte er zu Max’ und Denise’ Antiquitätenhandel kommen sollen, um das Geschäft abzuschließen. Und dann tauchte er nicht auf!
Die Morgensonne stand schon über den Hausdächern. Es schien ein schöner Junitag zu werden. Sie hatte die Viertel mit niedrigen Häusern und kleinen Läden hinter sich gelassen, und die Straße begann anzusteigen. Links von ihr erhob sich der schwere Klotz des Justizpalastes mit seinen Säulen und Steinlöwen, düster unheilverkündend wie eine Spukburg in einem Horrorfilm. Eine Schar Tauben flog so nahe bei Denise auf, daß sie beinah ihre Haare berührten.
Sie war sehr oft bei Eric Janssens zu Hause gewesen. Er wohnte allein ganz oben in einem Haus in der Rue Jean Jacob in der Nähe des Justizpalastes mit einer hinreißendenAussicht über Brüssel von der Dachterrasse aus und einer noch hinreißenderen Sammlung Kunst und Antiquitäten in der Wohnung.
Am Haus angekommen, tippte sie den Türcode ein und nahm den Lift in den fünften Stock. Sie strich sich über die Haare und zählte bis hundert, während sie versuchte, ruhiger zu atmen, bevor sie an der Tür klingelte.
Sie hörte das Signal in der Wohnung, aber niemand kam, um aufzumachen. Sie klingelte wieder und schielte zum Guckloch in der Tür. Nichts passierte.
Wenn Eric Janssens nun einen Herzanfall gehabt hatte und hilflos da drinnen lag! Der Gedanke kam ihr zum ersten Mal. Es hatte ihm ja tatsächlich viel an diesem Gemälde gelegen, als er sich erst einmal entschlossen hatte.
Nicht daß Eric Janssens wie ein potentieller Herzpatient ausgesehen hätte. Er war neunundfünfzig, schlank und durchtrainiert. Aber, dachte Denise, er war in der letzten Zeit etwas verändert gewesen, etwas … seltsam? Sie hatte es erst vor zwei Wochen bemerkt, nachdem er angerufen und sie gebeten hatte, sich um ein paar Koffer mit alter Kleidung zu kümmern, die er aus seinen Beständen aussortieren wollte. Er hatte eifrig gewirkt, nahezu exaltiert.
Sie nahm den Lift zurück ins Erdgeschoß und klingelte bei Maria Cunhal, eine Rentnerin, die in der alten Conciergewohnung des Hauses wohnte und ihre Rente aufbesserte, indem sie bei einigen der Mieter putzte. Sie half gewöhnlich bei Eric Janssens mit, wenn er Einladungen hatte, und da hatte Denise sie kennengelernt.
Maria Cunhal öffnete sofort. Sie erkannte Denise und bat sie in die Küche, wo die Morgenzeitung aufgeschlagen neben einer Tasse Kaffee und einem Korb mit Brot lag. Denise erklärte, daß Rechtsanwalt Janssens zu einem verabredetenTreffen nicht gekommen sei und daß sie anfange, sich seinetwegen Sorgen zu machen.
Maria Cunhal sah sie, durch ihre goldgefaßte Lesebrille blinzelnd, bekümmert an.
– Das klingt nicht gut, sagte sie, gestern hat der Herr Rechtsanwalt auch ein Treffen verpaßt, das er verabredet hatte. Da kam auch gestern jemand her und klingelte, ein fescher junger Mann …
Sie bekam einen verträumten Blick. Denise lächelte innerlich. Sie fragte sich, ob sich die Portugiesin bewußt war, warum so viele schöne junge Männer Eric Janssens Wohnung aufsuchten.
– Nein, keiner von denen, sagte Maria Cunhal und sah Denise streng an, als habe sie ihre Gedanken gelesen, era sério , dieser Mann, er hatte
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