Die Verfolgerin - Roman
1
Heute Nacht bin ich gestorben. Innerlich. Ich habe es gemerkt, weil meine Gedanken nicht mehr schmerzten. Ich liess sie alle vorbeimarschieren, um sicher zu gehen. Drei Stunden hat das gedauert. Der Mann neben mir im Bett hat geschnarcht. Ich verfolgte meinen Atem, wartete eine Weile. Nichts. Ich war tot. Friedlich eingeschlafen, sagen manche dazu. Der Mann hat sich umgedreht, als ich aufstand, um mir einen Whiskey sour zu mixen. Ich schüttete viel Eis ins Glas und setzte mich aufs Sofa. Das Eis hat alle Zellen in mir in Schneekristalle verwandelt. Ich weiss nicht, ob ich das geträumt habe, aber ich fühlte mich besser, und etwas in mir wusste, dass dieser Zustand anhalten würde.
Ich habe lange geschlafen, bereite mir nun einen starken Kaffee, einen richtigen, wie man ihn früher trank. Gefiltert, mit Kaffeesahne und einem Zuckerwürfel. Er sieht aus wie Kaffee früher ausgesehen hat. Goldbraun. Und er duftet wie Kaffee früher geduftet hat. Der Duft zieht durchs Haus, von der Küche ins Esszimmer, in das Büro des Mannes, in mein Arbeitszimmer, in das Schlafzimmer im ersten Stock, die Zimmer der Jungen, die Bäder und das Studio unterm Dach. Ich spaziere durchs Haus, verliere Stunden. Eine nach der anderen.
Es ist Nachmittag. Ich fahre mit der U-Bahn zum Odeonsplatz, nehme die Treppe Richtung Brienner Strasse, stehe eine Weile an ein Geländer gelehnt und beobachte, wie Menschen aus den Bürogebäuden eilen. Sie kommen in Gruppen, zu zweien oder allein, fast alles Männer, Angestellte aus Bankhäusern. Sie eilen die Strasse herunter in Richtung Odeonsplatz auf den U-Bahnschacht zu. Die Männer tragen Anzüge, die meisten geöffnete Jacketts. Der Gehwind bläst blaue Hemden frei. Einige warten an der Ampel, queren die Brienner Strasse Richtung Salvatorplatz, Fünf Höfe, Theatinerstrasse, Bayerischer Hof. Ich stelle mir vor, hinter einem dieser Männer herzugehen, ihn zu verfolgen. Ich stelle mir vor, wie er sich mit einem Geschäftspartner in einem der Cafés oder Restaurants trifft. Vielleicht in der Brasserie ›Oskar Maria‹ im Literaturhaus. Ich stelle mir vor, auf der Galerie setzt er sich auf eine der lederbezogenen Bänke ohne zu bemerken, dass er auf Worten sitzt. »Niemand kann allein sein.« Ein Zitat von Oskar Maria Graf. Vielleicht geht der Mann, den ich verfolgen würde, aber auch weiter zur Kirche, in das ›Nürnberger Bratwurst Glöckl‹, sucht sich im Biergarten einen Platz unter den Linden. Ich wäre enttäuscht, würde der Mann, den ich verfolgte, in einem der Häuser mit den Messingschildern, auf denen Kanzlei Dr. Dorn und Partner oder SFI Steuerberatungsgesellschaft oder Dr. Rummendorf und Partner Notariat steht, verschwinden. Ich würde ihn beobachten wollen. Sein Gesicht, seine Augen. Wie er redet. Das ist wichtig für mein Vorhaben.
Sie gehen schnell. Zu schnell für mich. Ich beschliesse, sie nicht zu verfolgen. Nicht heute. Fürs Erste soll es genügen, wenn ich mir vorstelle, wie es wäre, verfolgte ich sie. Ich gehe in das Café am Hofgarten. Jeder Stuhl in dem hohen Raum mit den dunkel getäfelten Wänden ist besetzt. Bis auf einen Tisch in der Ecke neben der Bar. Die Leute im Café reden und gestikulieren und trinken. Sekt mit Orangensaft, Wasser, Maracujasaft, Kaffee in allen Varianten – grosse Tasse, kleine Tasse, schwarz, mit Milchschaum. Ich bestelle mir ein Glas Maracujasaft-Schorle und eine Tasse Pfefferminztee. Ich erlaube meinen Gedanken, sich in den Wort- und Stimmenbrei im Café zu mischen. Bis sie klar daraus hervortreten. Wie Worte, die auf einem Monitor erscheinen: Ich eigne mich gut zu einer Verfolgerin. Ich habe die Fähigkeit so unauffällig für andere Menschen zu sein, dass sie mich nicht wahrnehmen. Das liegt an meiner Erscheinung: Ich bin von mittlerer Grösse, nicht dick, nicht dünn, habe braune Haare, graubraune Augen, trage Jeans und Shirts. Ich verfüge über die Gabe, mich so unauffällig zu benehmen, dass ich für die meisten Menschen unsichtbar bin. Von der Verfolgerin zur Mörderin wäre es nur ein kleiner Schritt. Ich würde mich auch gut zu einer Serienmörderin eignen. Keiner käme drauf, weil ich ein völlig normales Leben führe. Ich bin verheiratet, habe zwei Kinder und verdiene mir gelegentlich ein wenig Geld mit Artikeln, Gebrauchstexten, Geburtstagsreden. Nichts worunter man seinen Namen setzt. Mörder haben immer eine Beziehung zu ihrem Opfer. Der Nährboden für das Mordmotiv. Und das führt zum Täter.
Die Frau mit den langen
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