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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
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von den ausgetretenen Treppenstufen nicht abzurutschen, in den Keller. Sie betrachtete Denise’ schlanken Rücken, der die Treppe hinunter verschwand, interessiert, wie sie Menschen, denen sie begegnete, immer studierte. Sie fand, daß Denise in ihrem blaßrosa Twinset und ihrem grauen Bleistiftrock einbißchen wie eine dunkelhaarige Grace Kelly aussah. Aber die rosa Jacke hatte ein Loch am Ellenbogen, und Denise’ Ohrringe gehörten nicht zusammen, das war das erste, was Tatia an ihr aufgefallen war. Sie war sich sicher, daß das Absicht war. Alle Menschen verkleideten sich irgendwie, das war Tatias feste Überzeugung. Schon als sie klein war, hatte sie begriffen, daß ihre Eltern nur in ein glückliches Paar verkleidet waren, daß sie Rollen spielten, die ungefähr ebenso wirklich waren wie die schmucke Puppenfamilie in ihrer Puppenstube. Sie selbst hatte sich verkleidet in die Person, die sie würde sein wollen, jemand, der sophisticated und unverwundbar und bedeutend älter als die wirkliche Catherine Poirot war. Denise van Espen war verkleidet in eine kühle und korrekte Antiquitätenhändlerin, sagte aber mit ihren nicht zusammengehörenden Ohrringen und ihrer kaputten Jacke, daß es hinter der Fassade eine andere Person gab, dachte Tatia.
    Unten an der Treppe standen ein langer Arbeitstisch und zwei Stühle, umgeben von Packkisten, die anscheinend Gemälde und andere Kunstgegenstände enthielten. Auf dem Tisch lag ein vergoldeter Spiegel zusammen mit einem Vergrößerungsglas, einem Ordner, einer Schale mit Wasser und einer Packung Wattestäbchen.
    Denise ging am Tisch vorbei und weiter in den Keller hinein, der sich offenbar unter dem ganzen großen Laden erstreckte. Ganz hinten sah Tatia eine Garagentür. Vielleicht gab es einen zweiten Eingang in den Keller von der Rue de la Samaritaine aus auf der anderen Seite des Viertels.
    – Die Beleuchtung hier ist etwas schlecht, sagte Denise entschuldigend, aber wenn du etwas Interessantes findest, kannst du es ja mit nach oben in den Laden nehmen, damitdu es bei Tageslicht ansehen kannst. Ich glaube, die Koffer sind zu schwer, als daß du und ich sie bewegen könnten.
    Sie schlug die Deckel von zwei altmodischen Koffern auf, die nahe an der Wand standen.
    – Bitte sehr, it’s all yours! Ich wollte eine halbe Stunde weggehen, aber du kannst trotzdem hierbleiben. Weil du’s bist.
    Sie lächelte Tatia zu und verschwand die Wendeltreppe hinauf.
    – Ich schließe ab, rief sie, aber wenn du keine Lust mehr hast, kannst du einfach die Tür von innen aufschließen und hinter dir zumachen. Ciao!
    Tatia hörte die Türklingel bimmeln, als Denise die Tür hinter sich zuzog. Sie hockte sich vor den ersten Koffer. Der wohlbekannte Geruch von Mottenmitteln und alten Kleidern schlug ihr entgegen. Tatias Großmutter hatte die alten Kleidungsstücke jedes Frühjahr zum Lüften in ihre Kleiderkammer gehängt, aber die Kleider, die hier lagen, waren seit vielen Jahren, vielleicht Jahrzehnten, nicht auf Sonne und frische Luft getroffen.
    Tatia hob vorsichtig die obersten Kleidungsstücke und hängte sie über den aufgeschlagenen Kofferdeckel. Ein dunkelgrauer Herrenüberzieher aus einem weichen Material, das sich wie Kaschmir anfühlte, ein Kamelhaarulster, ein dreiteiliger Anzug mit Nadelstreifen. Alle Teile sahen aus, als wären sie für einen schlanken, ziemlich kleingewachsenen Mann angefertigt worden. Die Stoffe waren wunderbar, dicht, weich und geschmeidig. Tatia seufzte beinah vor Wohlbehagen, als sie das Seidenfutter in der nadelgestreiften Weste befühlte, marineblau mit taubenblauen Streifen. Die Weste konnte sie benutzen, wie sie war, wenn sie sie an den Seiten ein wenig einhielt und vielleichtAbnäher an der Brust anbrachte. Den Anzug selbst konnte sie für ihre Tante Martine ändern.
    Martine war eine der wichtigsten Personen in Tatias Leben, nicht zuletzt weil sie die Verbindung zu ihrem angebeteten Vater Philippe gewesen war, als er nach der Scheidung ein paar Jahre lang ganz aus ihrem Leben verschwunden war. Daß die Eltern sich scheiden ließen, war für Tatia fast eine Erleichterung gewesen, aber sie wußte immer noch nicht genau, warum sie den Kontakt zu Philippe so lange verloren hatte. Ihre Mutter Bernadette und ihr Stiefvater Bert hatten von Philippe nur geredet, wenn sie glaubten, daß Tatia sie nicht hörte, und mit flüsterndem Tonfall, als läge er im Sterben. Inzwischen kannte sie das dunkle Geheimnis, daß ihr Vater auf Männer stand. Für Tatia,

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