Die Totenfrau des Herzogs
furchtbaren Tage der Plünderung lagen nun schon mehr als ein Jahr zurück - der Schrecken über das Erlebte würde sich vielleicht niemals geben.
Sie seufzte und legte den Kopf auf die Knie. Was mochte Gott sich dabei gedacht haben, ihr ausgerechnet in Rom die Liebe geschickt zu haben? Gérard de Hautevilles markantes Gesicht drängte sich vor ihr Auge - und jener Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren und er sie zum ersten Mal vor dem Tod bewahrt hatte. Dann, viele schmerzhafte Monate später in Rom, hatte er ihr ein zweites
Mal das Leben gerettet. Da hatte sie schon gewusst, dass sie ihn gegen jede Vernunft liebte, denn der Soldat des Guiscard war von niedriger Geburt und unvermögend. Dennoch hatte er sich als Ritter mit Anstand erwiesen und sie nach Salerno zurückgebracht, zum Haus der Trota, wo sie sich, gepflegt durch die liebevollen und kundigen Hände der Ärztin, von den Strapazen und Ängsten hatte erholen können. Trotas Haus war der sichere Hafen gewesen, ein Ort voller Freundlichkeit und Liebe - es war ihr wie die Stadt ein neues Zuhause geworden.
Ima rieb sich mit beiden Händen das müde Gesicht. Dieses neue Zuhause kam ihr immer noch wie ein Wunder vor. Weder hohe Wellen noch Unberechenbarkeit schien es hier in Salerno zu geben, und auch nicht die salzige Eiseskälte des Nordmeeres. Oder den bösartigen Wind, der bis auf die Knochen drang und einen wie ein bohrender Schmerz an die eigene Vergänglichkeit erinnerte. Salerno war anders. Bunt, süß und laut, und irgendwie berechenbar. Hier gab es Wärme - meistens Hitze, doch das war nichts im Vergleich zu der Kälte auf der unwirtlichen Insel. Hier gab es nächtliches Leben, Musik, Fröhlichkeit, ausreichend Essen - und es gab keine Angst.
Ima hatte sich, seit sie in Salerno im Haus der alten Ärztin heimisch geworden war, nicht mehr gefürchtet, obwohl die herzogliche Residenz des Guiscard oben am Berg sie stets daran erinnerte, was sie durchlebt hatte.
Doch hatte ihr Herz sich erholt?
Ima betrachtete ihre schmalen Hände, denen es geschenkt war zu heilen. Trota, die Ärztin von Salerno und ihre Lehrmeisterin, hatte diese Hände respektvoll gesegnet und sich niemals vor dem sechsten Finger gefürchtet, der so vielen Menschen Angst einjagte. Ja, heilen konnte sie wohl - andere Menschen. Aber sich selbst? Hatte ihr Herz sich erholt? Gérards Gestalt wehte durch ihre Gedanken.
Viel gemeinsame Zeit war ihnen nicht vergönnt gewesen, des Guiscards Rastlosigkeit hatte ihn ihr schnell wieder genommen. Die Balkankriege nahmen kein Ende, man munkelte, Robert plane, Konstantinopel zu überfallen und den Basileus vom Thron zu stoßen. So wirklich vorstellen konnte sich das niemand - doch immerhin lagen schon im Herbst des letzten Jahres Truppen auf der anderen Seite des adriatischen Meeres.
Auch Gérard war monatelang Teil dieses Heeres gewesen, hatte wie durch ein Wunder das furchtbare Winterfieber überlebt und war von allen Unternehmungen wohlbehalten zurückgekehrt. Er stand in persönlichen Diensten von Roberts Zweitgeborenem Roger Borsa und machte sich Hoffnungen, an dessen Seite aufzusteigen. Ima starrte vor sich hin. Ein weiter Weg für einen Mann wie ihn. Leises Sehnen schmerzte in ihrer Brust. Wann hatten sie sich das letzte Mal gesehen? Jedes Treffen war viel zu kurz gewesen, immer war er entweder in Eile gewesen, oder sie hatte viel Arbeit in Trotas Krankenstation gehabt. Stets hatte Robert Guiscard mit seinen Plänen zwischen ihnen gestanden und alles verhindert, was über ein paar ungestörte leidenschaftliche Momente oder ein schüchternes Gespräch nach langen Wochen hinausging.
Die Nachtigall fing wieder an zu singen. Ihr zarter Schmelz zauberte Tränen auf Imas Gesicht - woher sie kamen, wusste sie nicht. Aber sie vermisste ihn. Obwohl sie in Trotas Haus so glücklich geworden war. Die viele Arbeit mit den Kranken ging ihr leicht von der Hand, sie konnte sich die Rezepturen und Ideen der alten Ärztin gut merken, und auch der größte Tumult - wenn drei Frauen gleichzeitig unter der Geburt schrien - brachte sie nicht aus der Ruhe. Trotas Haus war ein seltsamer Gegenpol zur kriegerischen Welt des Robert Guiscard - einer Welt, an der sie durch Gérard viel zu viel Anteil nehmen musste.
Sie hatte den Guiscard persönlich kennengelernt, damals in Rom, als er sie mitten in der Schlacht hatte rufen lassen, damit sie den Heiligen Vater heilte. Aus dieser Sache war ihr eine gewisse Achtung entgegengewachsen. Robert Guiscard
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