Die Totengräberin - Roman
Teekiste, in der sie die Tabletten aufbewahrte, die sie regelmäßig nehmen musste. Ein bisschen Kalium fürs Herz, Kalk für die Knochen, Aspirin fürs Blut und ein Briefchen leichtes Abführmittel für die Verdauung. Das Pulver musste in Wasser aufgelöst und getrunken werden, zum Glück schmeckte es einigermaßen erträglich und erinnerte entfernt an Orangengeschmack.
Sie hatte gerade den Kopf im Nacken, um die Kalktabletten zu schlucken, die groß und trocken waren und sich nur sehr schwer hinunterspülen ließen, als das Telefon klingelte.
Magda hielt den Atem an und zählte leise mit. Fünfmal, sechsmal. Dann stand sie auf. Das Klingeln zerrte an ihren Nerven, ihr brach der Schweiß aus.
Hör auf!, schrie sie innerlich, hör endlich auf! Ich bin nicht zu Hause. Wann kapierst du das? Herrgott noch mal!
Nach dem siebzehnten Mal schwieg das Telefon. Sie ging zur Terrassentür und sah hinaus. Der Hof, der Weg und der Wald lagen vollkommen verlassen da. Die Grillen zirpten, die Luft flimmerte vor Hitze.
Sie legte eine CD von Adriano Celentano auf. Zum Abschied. Johannes hatte seine Lieder immer gern gehört. Celentano war für ihn der kernige, männliche Italiener schlechthin. »Azzurro« war das einzige Lied, von dem er alle Strophen auf Italienisch singen konnte, und er brüllte es auf jedem Dorffest begeistert mit. Falls er es im Jenseits noch hören konnte, würde es ihn freuen.
»Sento fischiare sopra i tetti, un aeroplano che se ne va«, sang Adriano. »Ich höre über den Dächern ein Flugzeug davonfliegen …« Plötzlich überkam sie eine unerträgliche Wehmut. Sie sehnte sich danach, auch einfach in ein Flugzeug zu steigen und abzuhauen. Dies hier alles zurücklassen und nie wiederkommen. Irgendwo ganz von vorn anfangen. Ohne Johannes und ohne Schuld.
Plötzlich fiel ihr ein leicht beißender Geruch auf, der immer stärker wurde, je mehr sie sich dem Kühlschrank näherte. Sie schnüffelte die ganze Gegend ab und fand schließlich in einem Netz unter den Zwiebeln eine verschimmelte Zitrone.
Sie warf die Zitrone weg und merkte, dass sie Hunger hatte. Sie war ja noch gar nicht dazu gekommen, etwas zu essen.
Die Reste des Frühstücks standen noch auf dem Tisch.
Zuerst nahm sie die leere Müslischale, spülte sie sorgfältig aus und stellte sie zurück in den Schrank.
Anschließend schnitt sie sich eine Scheibe Brot ab und aß sie mit Parmaschinken. Dazu trank sie fast eine halbe Flasche Wasser.
»Es hat wirklich Spaß gemacht, für dich zu kochen, Johannes«, sagte sie lächelnd, lehnte sich entspannt zurück und sah in die toten Augen ihres Mannes, die sie kalt und vorwurfsvoll anstarrten. »Und ich glaube, unsere gemeinsamen Mahlzeiten werden mir fehlen, Liebster.«
In diesem Moment vernahm sie ein Motorengeräusch und hörte unwillkürlich auf zu atmen. Das Geräusch wurde lauter. Sie öffnete die Gardine vor der Terrassentür einen Spaltbreit und sah hinaus. Ein grüner Suzuki kam gerade den Weg herauf.
Magda erstarrte vor Schreck und schlich zum Fenster über der Spüle. Durch die Lamellen des Fensterladens konnte sie beobachten, was draußen geschah, und war sich sicher, nicht gesehen zu werden. Sie wartete und verharrte bewegungslos.
Der Wagen hielt direkt vor dem Haus.
Magdas Herz klopfte, der Schweiß stand ihr auf der Stirn.
Zwei Männer stiegen aus dem Auto, auf dem »Assistenza - Servizio - Manutenzione« und dann in riesigen Buchstaben »LIQUIGAS« geschrieben stand.
Wir haben noch genug Gas, dachte sie automatisch, und: Ich hab sie nicht angerufen. Was zum Teufel wollen die?
Der ältere der beiden klopfte energisch gegen die Terrassentür.
Magda rührte sich nicht. Sie hielt sogar den Atem an, als könnte sie sich damit unsichtbar machen.
»Accidenti, non c’è nessuno«, brummte sein Kollege, was so viel hieß wie: Verflucht noch mal, keiner da.
Warum ruft ihr auch nicht vorher an, ihr Vollidioten, dachte Magda, so wie es sich gehört. So wie es alle machen.
Der Ältere klopfte erneut. Länger, anhaltender, heftiger.
Magda rührte sich nicht, aber ihr war übel vor Angst.
Dann flüsterten die beiden. Magda konnte nicht genau verstehen, was sie sagten, sie hörte nur das Wort »macchina«, und siedend heiß fiel ihr ein, dass ihr Auto vor der Tür stand. Für Italiener ein untrügliches Zeichen, dass jemand zu Hause war.
Ich könnte ja spazieren gegangen sein, dachte Magda, oder schlafen. Oder krank sein. Jetzt nur die Nerven behalten. Schließlich können sie nicht
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