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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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Monstranz auf dem Reliquiar. Sie erinnerte an eine angelsächsische Brosche und enthielt einen knotigen, winzig kleinen Knochen, der in Gold und Edelsteinen eingefasst war.
    Es war das
Os trapezium,
das große Vieleckbein der rechten Hand. Alle Herrlichkeit verschwand. »Ein weiterer Penny, wenn ich das ganze Skelett sehen darf«, sagte sie.
    Die helle Stirn der Nonne – sie war schön – legte sich in Falten.
    Dann beugte sie sich vor, nahm die Monstranz herunter und hob den Deckel des Reliquiars an. Dabei rutschte ihr Ärmel hoch und gab einen Arm frei, der mit dunklen Blutergüssen übersät war.
    Adelia sah sie schockiert an. Dieses sanfte, liebe Mädchen wird hier geschlagen. Die Nonne lächelte und zog den Ärmel wieder herunter. »Gott ist gut«, sagte sie.
    Adelia hoffte es. Ohne um Erlaubnis zu bitten, nahm sie eine der Kerzen und hielt die Flamme nah an das Skelett.
    Gütiger Himmel, es war so klein. Priorin Joan hatte die Maße ihres Heiligen im Geiste übertrieben. Das Reliquiar war zu groß geraten; das Skelett verlor sich förmlich darin. Adelia musste an einen kleinen Jungen in zu großen Anziehsachen denken.
    Tränen brannten ihr in den Augen, während sie zugleich registrierte, dass die einzige sichtliche Verstümmelung an Händen und Füßen das fehlende Vieleckbein war. In diese Extremitäten waren keine Nägel geschlagen worden, und Brustkorb und Rückgrat waren unversehrt. Die vermeintliche Speerwunde, die Prior Geoffrey Simon gegenüber erwähnt hatte, war vermutlich mit dem Prozess der Verwesung zu erklären, bei dem der Körper so stark angeschwollen war, dass die Haut ihn nicht mehr fassen konnte. Der Bauch war aufgeplatzt.
    Doch da, am Beckenknochen waren die gleichen scharfen, unregelmäßigen Kerben, die ihr auch bei den anderen Kindern aufgefallen waren. Sie musste sich beherrschen, dass sie nicht die Hand in das Reliquiar schob, um das Becken herauszunehmen und genauer zu betrachten, aber sie war sich so gut wie sicher. Es war mehrfach auf den Jungen eingestochen worden, und zwar erneut mit jener ungewöhnlichen Klinge, wie sie noch nie eine gesehen hatte.
    »He, Missus.« Die Wartenden hinter ihr wurden allmählich unruhig.
    Adelia bekreuzigte sich und ging zur Tür, wo sie ihren Penny auf den Tisch des Schreibers legte. »Seid Ihr geheilt, Mistress?«, fragte er. »Ich muss die Wunder verzeichnen.«
    »Ihr könnt schreiben, dass ich mich besser fühle«, sagte sie.
    »Bestätigt«, wäre zutreffender gewesen. Sie wusste jetzt, womit sie es zu tun hatte. Der Kleine St. Peter war nicht gekreuzigt worden; er war sogar noch grässlicher gestorben. Wie die anderen.
    Und wie sollte sie das bei einer offiziellen Leichenbeschau erklären, dachte sie erbittert. Ich, Doktor Trotula, habe eindeutige Beweise dafür, dass der Junge nicht am Kreuz gestorben ist, sondern durch die Hände eines Schlächters, der noch frei unter euch herumläuft.
    Und das vor Leuten, die nichts von wissenschaftlicher Anatomie verstanden und sich auch nicht darum scherten und die das alles von einer fremdländischen Frau erklärt bekamen.
    Erst draußen an der frischen Luft fiel ihr auf, dass Ulf nicht mitgekommen war. Als sie ihn fand, saß er neben dem Tor auf dem Boden, die Arme um die Knie geschlungen.
    Adelia kam der Verdacht, dass sie gedankenlos gewesen war. »Hast du den Kleinen St. Peter gekannt?«
    Bemühter Sarkasmus richtete sich an den Aufpasser. »Im Winter bin ich nie mit ihm in die Schule gegangen, oder? Natürlich nich.«
    »Ich verstehe. Es tut mir leid.« Sie war wirklich gedankenlos gewesen. Das Skelett dahinten war dem Jungen hier einmal ein Schulkamerad und Freund gewesen, und wahrscheinlich hatte er um ihn getrauert. Sie sagte höflich: »Aber wer kann schon von sich sagen, dass er mit einem Heiligen die Schulbank gedrückt hat.«
    Der Junge zuckte die Achseln.
    Adelia kannte sich nicht mit Kindern aus, weil sie es meistens mit Toten zu tun hatte. Sie sah keinen Grund dafür, sie anders anzusprechen als jedes andere vernünftige menschliche Wesen, und wenn sie nicht darauf reagierten, wusste sie nicht weiter. »Wir gehen noch mal zum Baum von St. Radegund«, sagte sie. Sie wollte mit den Nonnen dort sprechen.
    Auf dem Weg dorthin kam Adelia plötzlich ein Gedanke. »Hast du deinen Schulkameraden vielleicht an dem Tag gesehen, als er verschwand?«
    Der Junge verdrehte entnervt die Augen Richtung Hund. »Das war Ostern. Ostern waren Gran und ich doch noch im Sumpf.«
    »Ach so.« Sie ging weiter.

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