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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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ungleich größer und besser organisiert.
    Adelia hatte noch Gylthas Bemerkungen über die Not der Leute im Ohr, und sie konnte einem armen Konvent keinen Vorwurf daraus machen, dass er versuchte, Kapital aus der Situation zu schlagen, aber sie konnte die Vulgarität verachten, mit der das geschah. Sie sah Roger aus Acton, der die Warteschlange der Pilger abschritt, eine Ampulle schwenkte und die Menschen zum Kauf aufforderte. »Wer mit dem Blut des Kindes gewaschen wird, muss sich nie wieder waschen.« Als er an ihr vorbeikam, ließ der säuerliche Lufthauch vermuten, dass er sich an seinen eigenen Rat hielt.
    Der Mann war auf der Reise von Canterbury hierher nicht zu überhören gewesen, ein irrer Affe, der ständig herumschrie. Die Kappe mit den Ohrenklappen war ihm noch immer zugroß, seine grünschwarze Robe war noch mit denselben Schlammspritzern und Essensflecken besudelt.
    In einer Pilgergruppe, die hauptsächlich aus gebildeten Menschen bestand, hatte der Mann wie ein Idiot gewirkt. Hier jedoch, unter den Verzweifelten, hatte seine spröde Stimme Überzeugungskraft. Roger aus Acton sagte: »Kauft«, und alle kauften.
    Man sagte, Gottes Finger erfülle diejenigen, die er berühre, mit heiligem Wahn. Acton flößte den Respekt ein, der Männern gebührte, die nur noch Haut und Knochen waren und in den Höhlen des Ostens vor sich hin murmelten, oder einem Säulenheiligen oben in luftiger Höhe. Nahmen Heilige körperliches Unbehagen nicht bereitwillig an? Hatte der Leichnam von St. Thomas à Becket nicht ein härenes Hemd getragen, das völlig verlaust war? Schmutz, religiöse Verzückung und die Fähigkeit, aus der Bibel zu zitieren, waren untrügliche Zeichen von Heiligkeit.
    Roger aus Acton gehörte zu einem Menschenschlag, den Adelia schon immer gefährlich gefunden hatte. Männer wie er erklärten exzentrische alte Frauen zu Hexen und schleiften Ehebrecher vor Gericht, ihre Stimmen riefen zu Gewalt gegen andere Rassen, andere Religionen auf.
    Die Frage war nur,
wie
gefährlich.
    Warst du es?, dachte Adelia, während sie ihn beobachtete. Bist du am Wandlebury Ring herumgeschlichen? Hast du dich wirklich im Blut der Kinder gewaschen?
    Nun, sie würde ihn das noch nicht fragen, erst wenn sie Grund dazu hatte, aber vorläufig blieb er ein möglicher Kandidat.
    Er erkannte sie nicht. Ebenso wenig wie Priorin Joan, die auf ihrem Weg zum Tor an ihnen vorbeikam. Sie trug Reitkleidung, hatte einen Gerfalken auf dem Handgelenk sitzen und ermunterte die Käufer im Vorbeigehen mit einem »Horrido«.
    So selbstbewusst und rücksichtslos, wie die Priorin auftrat, hätte Adelia erwartet, dass das Haus, dessen Oberhaupt die Frau war, ein Muster an Organisation wäre. Doch stattdessen war überall Nachlässigkeit zu sehen: Um die Kirche herum wucherte Unkraut, im Dach fehlten Schindeln. Die Nonnen trugen geflickte Habits, das weiße Leinen unter den schwarzen Schleiern wirkte schmuddelig, und sie benahmen sich ungehobelt.
    Während Adelia langsam in der Schlange Richtung Kirche schlurfte, fragte sie sich, was wohl mit dem Geld geschah, das der Kleine St. Peter dem Kloster einbrachte. Bislang diente es jedenfalls nicht dem größeren Ruhme Gottes. Auch nicht dazu, den Pilgern ein paar Annehmlichkeiten zu bieten. Niemand half den Kranken, es gab keine Bänke für die Lahmen, keine Erfrischungen. Der einzige Hinweis auf Übernachtungsmöglichkeiten war eine am Kirchentor hängende verwitterte Liste mit den Gasthöfen in der Stadt.
    Doch die Bittsteller, die sich gemeinsam mit ihr Schritt für Schritt vorarbeiteten, schienen sich nicht daran zu stören. Eine Frau mit Krücken erzählte den Umstehenden stolz von ihren Besuchen in Canterbury, Winchester, Walsingham, Bury St. Edmunds und St. Albans und zeigte allen ihre Andenken. Die Ärmlichkeit hier betrachtete sie mit Nachsicht. »Von dem hier erhoff ich mir einiges«, sagte sie. »Das ist noch ein junger Heiliger, und immerhin haben die Juden ihn gekreuzigt. Auf den hört Jesus, ganz bestimmt.«
    Ein englischer Heiliger, der das gleiche Schicksal, noch dazu von denselben Händen, erlitten hatte wie der Sohn Gottes. Der die Luft geatmet hatte, die sie jetzt atmeten. Unwillkürlich begann Adelia zu beten, dass die Frau Recht behielt.
    Sie war inzwischen im Innern der Kirche. An einem Tisch neben der Tür saß ein Schreiber, der die Aussage einer bleichenFrau niederschrieb, die ihm erzählte, sie fühle sich besser, seit sie die Reliquie berührt hatte.
    Das war Roger aus Acton

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