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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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Boote an den Kais, dass es fast unmöglich schien, sie je wieder voneinander zu lösen. Holzkräne hoben und senkten sich wie Reiher. Rufe und Befehle erschallten in verschiedenen Sprachen. Die Schiffsarten waren ebenso vielfältig wie die Sprachen: Lastkähne, von Pferden gezogene Schleppkähne, Stechkähne, Flöße, bauchige Schiffe wie Archen und zu Adelias Erstaunen sogar eine Dau. Männer mit blonden Zöpfen und Tierfellen am Leib, in denen sie aussahen wie Bären, führten zur Unterhaltung der Dockarbeiter zwischen den Booten einen Hüpftanz auf.
    Der Lärm des geschäftigen Treibens, der vom Wind zu ihnen herübergetragen wurde, ließ das Ufer, auf dem Adelia mit dem Jungen und dem Hund unterwegs war, noch stiller wirken. Sie hörte, wie Ulf dem Hund erklärte, dass sie sich nun dem Baum von St. Radegund näherten.
    Das hätte Adelia auch allein erkannt. Der Baum war umzäunt worden. Gleich daneben war ein Stand aufgebaut, auf dem ein Haufen Äste lag. Zwei Nonnen brachen davon Zweige ab, befestigten Bänder daran und verkauften sie an Reliquiensucher. Hier also hatte der Kleine St. Peter seine Osterzweige gepflückt, und hier war später Chaim der Jude aufgehängt worden.
    Der Baum stand in der Nähe einer Mauer, die das Grundstück des Nonnenklosters begrenzte und auf der Flussseite ein Tor hatte, von wo aus man zu einem Bootshaus und einer kleinen Anlegestelle gelangte. Auf der Westseite verlief sie hingegen so weit in die bewaldete Landschaft hinein, dass Adelia nicht sehen konnte, wo sie endete.
    Durch das offene Tor sah Adelia im Hof des Klosters Nonnen zwischen den Pilgerscharen wieseln wie schwarzweiße Bienen, die Honigsammler zu ihren Waben dirigierten. Vor dem Torsaß eine Nonne in der Sonne an einem Tisch. Sie erklärte gerade einem Mann und einer Frau, die vor ihr standen: »Ein Penny für den Besuch am Grab des Kleinen St. Peter.« Dann fügte sie hinzu: »Oder ein Dutzend Eier, wir sind knapp an Eiern, die Hennen legen nicht.«
    »Ein Topf Honig?«, schlug die Frau vor.
    Die Nonne war zwar nicht ganz zufrieden, erlaubte ihnen aber dennoch durchzugehen. Adelia zahlte zwei Penny, weil die Nonne sonst Aufpasser nicht durchgelassen hätte und Ulf ohne den Hund nicht hineinwollte. Ihre Münzen klimperten in eine fast volle Schale. Durch die Debatte hatte sich hinter ihr eine Menschenschlange gebildet, und eine der Nonnen, die die Aufsicht führten, war so verärgert über die Verzögerung, dass sie sie fast durch das Tor schubste.
    Unwillkürlich verglich Adelia dieses erste englische Nonnenkloster, das sie nun betrat, mit San Giorgio, dem größten von drei Frauenkonventen in Salerno, das ihr noch dazu am vertrautesten gewesen war. Der Vergleich war ungerecht, wie sie wusste: San Giorgio war reich, ein Ort voller Marmor und Mosaiken, mit Bronzetüren, die auf Innenhöfe führten, wo Brunnen die Luft kühlten. Ein Ort, wie Mutter Ambrosia immer gesagt hatte, »um die hungrigen Seelen, die zu uns kommen, mit Schönheit zu stärken«.
    Falls die Seelen von Cambridge im Kloster St. Radegund auf solche Nahrung hofften, würden sie es mit leerem Bauch verlassen müssen. Dieses Frauenhaus hatte nur wenige Stifter, was darauf schließen ließ, dass die Reichen Englands keine hohe Meinung von weiblicher Gottesfurcht hatten. Zugegeben, die schmucklosen, langgezogenen Steingebäude des Klosters, von denen keines größer oder beeindruckender war als die Scheune, in der man in San Giorgio das Korn aufbewahrte, ließen in ihrer Gesamtheit eine gewisse ansprechende Schlichtheitder Form erkennen, aber es mangelte an Schönheit. Auch an Mildtätigkeit. Hier waren die Nonnen angehalten, eher zu verkaufen denn zu verschenken.
    Der Weg zur Kirche war gesäumt von Ständen, die Talismane des Kleinen St. Peter feilboten, Abzeichen, Figürchen, Tafeln, Flechtwerk vom Weidenbaum des Kleinen St. Peter, Ampullen, die das Blut des Kleinen St. Peter enthielten, das man, falls es sich überhaupt um menschliches Blut handelte, so stark verdünnt hatte, dass es nur noch eine ganz leichte Rosatönung aufwies.
    Der Ansturm der Käufer war groß. »Was ist gut gegen Gicht? … Gegen die Ruhr? … Für Fruchtbarkeit? … Hilft das gegen Schwindel bei Kühen?«
    St. Radegund wartete nicht ab, bis die Heiligkeit seines Sohnes, der den Märtyrertod gestorben war, nach Jahren vom Vatikan bestätigt werden würde. Aber das hatte Canterbury auch nicht getan. Dort war die Geschäftemacherei mit dem Martyrium von St. Thomas à Becket

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