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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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Fragen kostete ja nichts.
    Hinter ihr sprach der Junge weiter mit dem Hund. »Aber Will hat ihn gesehen. Will war dabei, nich?«
    Adelia drehte sich um. »Will?«
    Ulf schnalzte mit der Zunge. Der Hund war schwer von Begriff. »Er und Will haben beide Weidenkätzchen gepflückt.« Prior Geoffrey hatte, als er Simon den letzten Lebenstag des Kleinen St. Peter geschildert hatte, keinen Will erwähnt, das hätte Simon ihr sicherlich nicht vorenthalten.
    »Wer ist Will?«
    Als das Kind wieder den Hund ansprechen wollte, legte Adelia eine Hand auf den Kopf des Jungen und drehte ihn zu ihr um. »Es wäre mir lieber, wenn du direkt mit mir reden würdest.«
    Ulf wandte den Kopf ab, so dass er wieder den Aufpasser ansah.
    »Wir können sie nich leiden«, erklärte er ihm.
    »Ich mag dich auch nicht«, stellte Adelia klar, »aber hier geht es darum, wer deinen Schulkameraden getötet hat, wie und warum. Ich verstehe mich darauf, solche Dinge zu untersuchen, und in diesem Fall brauche ich deine Kenntnisse als Einheimischer – worauf ich auch ein Recht habe, denn schließlich arbeiten du und deine Großmutter für mich. Ob wir einander mögen oder nicht, spielt dabei keine Rolle.«
    »Die Juden waren’s.«
    »Bist du sicher?«
    Zum ersten Mal sah Ulf sie richtig an. Wäre der Steuereintreiber in diesem Moment bei ihnen gewesen, er hätte bemerkt, dass die Augen das Gesicht des Jungen älter wirken ließen, wie bei Adelia, wenn sie arbeitete. Adelia entdeckte eine fast beängstigende Schläue darin.
    »Komm mal mit«, sagte Ulf.
    Adelia wischte sich die Hand am Rock ab – das Haar des Kindes, das unter seiner Mütze hervorlugte, war fettig und wahrscheinlich auch verlaust – und ging hinter ihm her. Er blieb stehen.
    Sie blickten über den Fluss auf ein großes und imposantes Herrenhaus mit einem Rasen davor, der bis hinunter zu einem kleinen Bootssteg reichte. Die allesamt geschlossenen Fensterläden und das Unkraut, das in den Dachrinnen wucherte, ließen erkennen, dass es unbewohnt war.
    »Das Haus vom Oberjuden«, sagte Ulf.
    »Chaims Haus? In dem Peter angeblich gekreuzigt worden ist?«
    Ulf nickte. »Ist er aber nich. Da noch nich.«
    »Soweit ich weiß, hat eine Frau den Jungen in einem der Zimmer hängen sehen.«
    »Martha«, sagte Ulf in einem Tonfall, der den Namen in die Nähe von Rheuma rückte, unbeliebt, aber unvermeidlich. »Die erzählt alles Mögliche, bloß um sich wichtig zu machen.« Als wäre er mit seinem vernichtenden Urteil über eine Mitbürgerin zu weit gegangen, fügte er hinzu: »Ich sag ja nich, dass das überhaupt nich stimmt, ich sag nur, dass sie das nie im Leben da gesehen hat, wo sie es gesehen haben will. Genau wie der alte Peaty. Komm mit.«
    Wieder ging es weiter, vorbei an St. Radegunds Weidenbaum mit dem Stand, wo Zweige verkauft wurden, bis zur Brücke. Von dieser Stelle aus hatte ein Mann, der Torf in die Burg liefern wollte, gesehen, wie zwei Juden ein Bündel, vermutlich den Körper des kleinen Peter, in die Cam warfen. Sie sagte: »Der Torfhändler hat sich auch geirrt?«
    Der Junge nickte. »Der alte Peaty ist halbblind, ein gerissener alter Lügner. Der hat gar nix gesehen. Weil nämlich …«
    Sie gingen jetzt wieder den Weg zurück, den sie gekommen waren, bis zu der Stelle gegenüber von Chaims Haus.
    »Weil nämlich …«, sagte Ulf und zeigte auf den leeren Bootssteg, der ins Wasser hineinragte, »… weil nämlich da die Leiche gefunden worden ist. Hatte sich unter ’nem Pfosten verfangen. Deshalb kann keiner was von der Brücke geschmissen haben, weil nämlich …?«
    Er blickte sie gespannt an, ein Test.
    »Weil nämlich«, sagte Adelia, »Leichen nicht flussaufwärts treiben.«
    Die altklugen Augen blickten plötzlich heiter, wie die eines Lehrers, dessen Schülerin doch mehr Grips im Kopf hat als vermutet. Sie hatte bestanden.
    Aber wenn die Aussage des Torfhändlers so offensichtlich falsch war und damit auch die der Frau fragwürdig machte, die behauptet hatte, nur kurz zuvor den gekreuzigten Kinderkörper in Chaims Haus gesehen zu haben, warum hatte man dann trotzdem sofort mit dem Finger auf die Juden gezeigt und ihnen die Schuld gegeben?
    »Weil sie’s gewesen sind«, sagte Ulf, »nur nich dann.« Er bedeutete ihr mit einer schmuddeligen Hand, sich ins Gras zu setzen, und ließ sich dann neben ihr nieder. Er fing an, sehr schnell zu reden, gewährte ihr Einblick in die Welt von Kindern, deren Theoriebildung auf Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen beruhte, die

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