Die Totenleserin1
sich stark von denen der Erwachsenen unterschieden.
Adelia hatte Mühe zu folgen, weil er gelegentlich Dialektworte benutzte, mit denen sie nichts anfangen konnte, so dass sie sich bei größeren Verständnislücken den Zusammenhang irgendwie zusammenreimen musste.
Will, so erfuhr sie, war ein Junge in Ulfs Alter, und er war mit demselben Auftrag unterwegs gewesen wie Peter, nämlichWeidenkätzchen zu schneiden, mit denen das Haus für Palmsonntag geschmückt werden sollte. Will wohnte direkt in Cambridge, aber er und der Junge aus Trumpington waren sich an St. Radegunds Baum begegnet, wo sie beide fasziniert die Hochzeitsfeierlichkeiten auf Chaims Rasen am anderen Flussufer beobachtet hatten. Daraufhin war Will mit Peter zusammen über die Brücke und durch die Stadt gegangen, um zu sehen, was sich in den Stallungen hinter Chaims Haus Interessantes abspielte.
Anschließend hatte Will seinen Gefährten verlassen, um die Weidenzweige seiner Mutter nach Hause zu bringen.
Hier stockte die Erzählung, doch Adelia wusste, dass noch mehr kommen würde – Ulf war ein geborener Geschichtenerzähler. Die Sonne wärmte sie, und es war recht angenehm, im Halbschatten der Weiden zu sitzen, wenngleich sich während ihres Spazierganges irgendetwas Übelriechendes im Fell vom Aufpasser eingenistet hatte, das noch mehr Würze entwickelte, als es allmählich trocknete.
Ulf, der seine vorwitzigen Füße in den Fluss getaucht hatte, klagte über Hunger. »Wenn ich ’nen Penny krieg, hol ich uns was vom Bäcker.«
»Später.« Adelia drängte ihn, weiterzureden. »Ich fasse zusammen: Will ist also nach Hause gegangen, und Peter ist in Chaims Haus verschwunden und wurde nie wieder gesehen.« Ulf stieß ein höhnisches Schnauben aus. »Wurde nie wieder von keinem gesehen, außer von Will.«
»Will hat ihn danach noch einmal gesehen?«
Es war später am selben Tag gewesen, und es wurde schon dunkel. Will war zurück an die Cam gegangen, um seinem Vater einen Topf mit Essen zu bringen, weil der noch bis spät in die Nacht hinein einen der Lastkähne kalfatern musste, der am nächsten Morgen fertig sein sollte.
Und Will hatte von der Stadtseite aus Peter am linken Ufer stehen sehen – »Hier, genau hier. Wo wir zwei jetzt sitzen.« Will hatte Peter zugerufen, er solle machen, dass er nach Hause kommt.
»Wenn er bloß auf ihn gehört hätte«, fügte Ulf bedauernd hinzu. »Wenn du nämlich nachts im Trumpington-Marschland unterwegs bist, dann packen dich die Weidenbolde und reißen dich in die Hölle.«
Adelia überging die »Weidenbolde«. Sie wusste nicht, wer oder was die waren, und wollte es auch gar nicht wissen. »Erzähl weiter.«
»Also, Peter ruft zurück, dass er gleich irgendwen trifft, wegen den Jujus.«
»Weswegen?«
»Den Jujus.« Ulf war ungeduldig und stieß zweimal mit dem Finger durch die Luft Richtung Chaims Haus. »Jujus, die Juden, das sagte er. Er würde einen
wegen
den Jujus treffen, und ob Will Lust hätte mitzukommen. Aber Will hat nee gesagt, und er ist verdammt froh, dass er das gemacht hat, weil nämlich
danach
dann wirklich keiner mehr Peter gesehen hat.«
Jujus. Er würde jemanden
wegen
den Jujus treffen? Irgendein Botengang für die Jujus? Und was sollte dieser infantile Ausdruck? Es gab zahllose abfällige Bezeichnungen für Juden; seit sie in England war, hatte sie die meisten davon schon gehört, aber den noch nie.
Sie grübelte darüber nach, stellte sich vor, wie sich die Szene am Fluss an dem Abend abgespielt hatte. Selbst heute, bei hellem Sonnenschein und mit den vielen Menschen um St. Radegunds Baum ein Stück weiter oben, war dieser Teil des Ufers ruhig, umgeben von Wald und Wiesen. Wie dunkel mochte es damals gewesen sein.
Peter, so dachte sie, wirkte in dieser Schilderung geradezu übermütig,ein bisschen romantisch. Ulf hatte ein Kind beschrieben, das sich leichter ablenken ließ als der verlässliche Will. Sie sah ihn jetzt vor sich: eine kleine Gestalt, die ihrem Freund zuwinkte, blass im Dämmerlicht der Bäume, in dem sie dann für immer verschwand.
»Hat Will irgendwem davon erzählt?«
Das hatte Will nicht, zumindest keinem Erwachsenen. Zu groß war seine Angst, dass die verdammten Juden sich ihn als Nächsten vorknöpfen würden. Und Ulf war der Ansicht, dass er gut daran getan hatte. Nur unter seinesgleichen, in der verborgenen, missachteten, geheimen Welt kindlicher Kameradschaft hatte Will sein Geheimnis enthüllt.
Und das erwünschte Ergebnis hatte sich ja dann auch
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