Die Totenmaske
Schultern, ließ sie entspannt wirken wie nach einem langen arbeitsreichen Tag. Sie hatte sich vorgelehnt, um sich auf dem Geländer abzustützen, als wollte sie Zoe aus der Nähe betrachten. Dabei bekam sie nicht einmal mit, wie ihr die Kerzen aus den Händen fielen. Isobel schloss die Augen, um sich zu sammeln. Das tat sie immer, wenn eine längere Rede bevorstand. Zoes Knie fühlten sich an wie weicher Lehm. Die Predigerin begann, ihr Wort zu verkünden.
»Der Apostel wies mir den Weg, zeigte mir auf wundersame Weise das Handwerkszeug direkt vor meiner Tür und in meinem Haus. Himmlische Glocken von lieblicher Pracht zu getrocknetem Gift als Vorhut zum Tod, der im Kleid des puren Parathion das Werk vollendete. Denn wisset, wenn Gott Rache nimmt, wählt er keinen einfachen Weg! Vor der Flut schickt er die Seuche und vor der Finsternis das Blut.«
Zoe wurde schwindelig bei dem Vergleich der biblischen Plagen mit der Tatsache, dass ihre Mutter ihre Opfer erst betäubt, dann vergiftet und letztlich den Wagen mit den Leichen im Steinbruch hatte abstürzen lassen.
Die prächtigen Stauden Engelstrompeten hinter ihrem Haus kamen Zoe in den Sinn. Daraus musste Isobel in mühseliger Kleinarbeit das Atropin gewonnen haben. Wie sie an das E 605 gekommen war, war ihr jedoch schleierhaft.
»Im Keller«, hörte Zoe ihre eigene Stimme und fuhr leicht zusammen. Sie hatte nicht vorgehabt, es laut auszusprechen, und wandte sich nun, da sie gerade dabei war, Leon zu. »Im Keller zwischen den uralten Hinterlassenschaften meiner Großeltern könnte sie das Gift gefunden haben.«
Leon schien genug gehört zu haben. Er bedeutete Zoe mit einer Geste, dass er vorhatte, zu der kleinen Tür unterhalb der Empore zu gehen. Obwohl Zoe ihm zunickte, nahm sie kaum wahr, wie er sich entfernte. Ein erneuter Ruck erfasste den Körper ihrer Mutter wie ein Frequenzwechsel im Radio. Isobels Blick klarte sich für einen Moment auf.
»Weißt du, Autos explodieren überhaupt nicht, wenn sie einen Abhang hinunterstürzen.« Enttäuschung schwang in ihrer Stimme mit.
Zoes Mund wurde trocken, während sie ihrer Mutter gebannt lauschte. Sie hatte einige Mühe, zwischen den zahlreichen Bibelzitaten und den Tatsachen zu unterscheiden. Immer wieder wollte ihr Verstand sich weigern, zu verstehen, was sie zu hören bekam. Wie ihre Mutter nach der Tat in ihr Auto gestiegen und nach Hause gefahren war, wo sie in aller Ruhe ihre nächste Predigt vorbereitete. Wie sie am nächsten Tag dann doch beschlossen hatte, sich vom Erfolg ihrer Mission zu überzeugen. Mit dem Fahrrad war sie über zwanzig Kilometer zurück zum Tatort geradelt. Beschwingt unter Gottes Segen. Zufrieden hatte sie dort festgestellt, dass bisher niemand die drei Leichen im Chevrolet entdeckt hatte. Kurzerhand beschloss sie, den geräumigen Kofferraum des Oldtimers zu nutzen, um ihr Fahrrad darin zu verstauen. Nachdem sie das Verdeck des Wagens geschlossen hatte, fuhr sie mit drei Leichen im Gepäck durch die Nacht zum Steinbruch, ohne zu ahnen, dass ein veraltetes Radargerät sie dabei erfasste. Der Geschwindigkeitsrausch nährte ihren übertriebenen Wahn, die drei Gefallenen der reinigenden Kraft des Feuers zu übergeben. An dem schräg abfallenden Steilhang hatte sie die Handbremse gezogen und war aus dem Wagen gestiegen, um ihr Fahrrad aus dem Kofferraum zu holen. Von außen hatte sie dann die Handbremse gelöst. Der Wagen rollte wie von allein auf den Abhang zu. Ein Zeichen Gottes. Doch wider Erwarten explodierte das Auto durch den Aufprall nicht, sondern wurde nur zerquetscht wie eine Konserve. Dennoch hob Isobel im nachwirkenden Taumel aus ergebener Freude die Arme. »Gepriesen sei der Herr in seiner Gerechtigkeit!«
Ihr Lachen verhallte im Getöse der aufsteigenden Flammen und ließ vor Zoes innerem Auge das Bild aufsteigen, in dem ihre Mutter am Tattag vor dem Abgrund stand. Unter sich das zertrümmerte Fahrzeug mit den drei toten jungen Männern. Ein weiteres Kapitel im Buch des Lebens war geschrieben.
»Ich habe es für dich getan«, schloss ihre Mutter ihre Rede mit überraschend zärtlicher Stimme. Immer noch fesselte ihr durchdringender Blick diese. Eine alles verzehrende Traurigkeit überkam Zoe. Sie war im Begriff, ihre Mutter zu verlieren, die ihr einfach entglitt und die Welt um sich herum ausschloss. Zutiefst ergriffen fand sie hinter dem Spiegel des Irrsinns jenen besonderen Funken, der sie mitten ins Herz traf. Zusammen mit dem zufriedenen Lächeln, das die Mundwinkel
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