Die Totenmaske
zu greifen, als könnte sie etwas daran ändern, wenn sie es gar nicht erst anfasste. Aber Gespenster verschwanden nicht, wenn man sich unter der Bettdecke verkroch. Ihr Knie zuckte unter den Stofffalten. Das Foto kippte zur Seite, hob sich in den Fokus wie ein Mahnmal. Alle anderen verblassten wie unbeachtete Memorykärtchen.
»Du siehst es auch, nicht wahr?«
Er ließ die Frage in der Luft hängen, als genügte das als Erklärung dafür, dass er ihre Mutter verdächtigte.
Zoe antwortete nicht, aber in der Stille brach die Wahrheit förmlich über sie herein.
»Besonders deutlich ist es aber nicht«, brachte sie nach einer Weile hervor, nur um überhaupt etwas zu sagen.
Lange schaute sie das Foto an, versuchte, zu begreifen, was sie dort sah. Längst vergessen geglaubte Erinnerungen tauchten plötzlich wieder auf. Aus einer Zeit der Nähe. Als kleines Mädchen war sie fest davon überzeugt gewesen, dass Engel und Feenwesen schwarze Haare hatten. Egal, wie viele Märchen von lieblichen goldgelockten Prinzessinnen berichteten. Für Zoe wurde jedes goldene Haar zu edlem Schwarz. Feen sah man selten. Mutters offenes Haar ebenso.
»Natürlich ist das kein endgültiger Beweis«, versuchte Leon, sie zu trösten. »Es könnten mehrere Gründe für ihre Anwesenheit dort vorliegen.«
Ein ausgiebiger Spaziergang vielleicht? Wohl kaum. Wirklich zu glauben schien er seine Worte nicht. Zu verdenken war es ihm kaum. Zoe konnte selbst nicht fassen, zu welchem Netz sich die losen Fäden zusammenzuziehen schienen. Im Grunde spürte sie, dass er recht hatte. Oft genug hatte sie ihre Mutter tagelang nicht gesehen und geglaubt, sie verschanze sich in ihrer Kapelle. Gespräche führten sie ohnehin nicht wirklich. Sie kannten sich ja nicht einmal. Dafür wusste Zoe tief in ihrem Innern, dass Isobels Hass auf Boris seit dem Vorfall damals nie abgenommen hatte. Ganz zu schweigen von ihren Predigten, in denen sie immer exzessiver Abraham zitierte und damit die Bereitschaft verkündete, irdische Taten in Gottes Namen selbst zu sühnen.
»Was wirst du nun unternehmen?«, fragte sie gepresst.
»Ich muss herausfinden, ob sie ein Alibi hat. Sie zeigte sich nicht besonders kooperativ, als ich bei ihr war. Das Foto hat sie kaum angesehen und sich stattdessen ziemlich rasch zurückgezogen.«
»Du warst bei meiner Mutter? Wann?«
»Direkt am nächsten Morgen, nachdem ich die Fotos durchgesehen hatte, fuhr ich nach Birkheim, um sie dir zu zeigen. Deine Mutter erwähnte nur, es käme häufig vor, dass du über Nacht wegbliebst …« Er stockte und senkte kurz den Blick.
Zoe glaubte, einen leisen Vorwurf in seiner Stimme zu hören, wollte sich aber im Moment nicht weiter damit beschäftigen.
»Ach ja? Und wer sollte ihr ein Alibi geben? Sie verbringt die meiste Zeit allein in ihrer Kapelle.« Sie blitzte ihn an.
»Du hast nichts gegen sie in der Hand, stimmt’s?«
Sofort bedauerte sie den feindlichen Unterton in ihrer Stimme. Sie konnte sich selbst nicht erklären, woher der Anflug familiärer Loyalität kam.
Leon versteifte sich. »So ist es. Außer roten Erdspuren vom Steinbruch am Fahrrad in eurer Garage, vagen Zeugenaussagen und meiner Kombinationsgabe habe ich nichts Konkretes. Ein paar Indizien genügen zwar nicht für eine Mordanklage, aber es reicht, um die Ermittlungen einzuleiten.«
Mit gerunzelter Stirn schob er den Stapel Fotos zusammen, als wollte er die unheilverkündenden Beweisstücke aus Zoes Blickfeld vertreiben. Dabei strichen seine Hände über ihre Beine wie ein zufälliges Streicheln.
Es tat ihr leid, ihn verärgert zu haben. Schließlich war es sein Job, diesen Fall aufzuklären. Auch wenn es ihr nicht in den Kram passte, wie die Dinge sich entwickelt hatten. Doch sie war durcheinander und kämpfte mit plötzlichen Existenzängsten. Ihr Leben geriet gerade mächtig aus den Fugen, und die Vorstellung, ihre Mutter könnte eine Verbrecherin sein, war beklemmend.
»Vielleicht erkennt Josh die Frau, wenn ich ihm das Foto zeige«, fügte Leon ruhig hinzu.
»Kann ich mir nicht vorstellen, wenn er sie an dem Tag schon nicht richtig gesehen hat«, erwiderte Zoe, ohne ihn anzublicken.
Und falls doch, würde es ihm verdammt schwerfallen, der Polizei zu erzählen, dass er ihre Mutter dort gesehen hatte, dachte Zoe. Ein Verhör ihrer Mutter schien unausweichlich. Doch Zoe befürchtete, dass dabei nicht viel herauskommen würde. Isobel pflegte dichtzumachen, um die Dinge nicht an sich heranzulassen. Darin war sie richtig
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