Die Totenmaske
ihrem Innern, die sie stets bemüht geschlossen gehalten hatte. Nun strömte die Vernunft hinaus wie Quellwasser in einem Bach. Bereitete den Weg für eine längst vergessene Sehnsucht.
Sollte mal jemand versuchen, Gefühle zu erklären! Sie folgten keinem logischen Schema, waren Schatten und Licht zugleich. Man kann sie annehmen oder es bleiben lassen.
Kapitel 20
E rneut fand Zoe sich mit Leon im Warteraum eines Gebäudes mit vergitterten Fenstern und Plastikmöbeln, deren Kanten abgerundet waren. Zwar war dies kein Gefängnis, aber dennoch eine totale Institution mit der klangvollen Bezeichnung »Einrichtung für psychiatrische Rehabilitation«. In Zoes Kopf hämmerten Begriffe wie »Irrenhaus« oder »Nervenheilanstalt«, aber das sagte man nicht. Schließlich gab es bunte Wände und Bilder, ganz im Sinne der Farbpsychologie, abgestimmt auf die mentalen Bedürfnisse der Klinikinsassen. Blau wirkte beruhigend und entspannend. Soso.
Bereits nach wenigen Tagen unter Medikamenten hatte Zoes Mutter ein umfangreiches Geständnis abgelegt. Die Niederschrift las sich wie ein abgedrehter Kriminalfilm und deckte beinahe jeden Rückschluss, den Zoe und Leon getroffen hatten.
Sie war zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden. Erst im Wiederaufnahmeverfahren wurde ihr Unzurechnungsfähigkeit bescheinigt, so dass die Haftstrafe umgewandelt und sie auf unbestimmte Zeit in eine geschlossene psychiatrische Klinik eingewiesen worden war. Die Ärzte waren noch nicht sicher, was die Diagnose betraf. Bislang hieß es, ihre Mutter litte unter einer ausgeprägten Persönlichkeitsstörung mit Tendenz zu Schizophrenie. Allmählich wurde Zoe klar, worauf die übersteigerten Reaktionen auf alltägliche Begebenheiten bei ihrer Mutter beruhten. Nicht zuletzt hatten sich die religiösen Ambitionen massiv verstärkt, so dass Zoe oft das Gefühl hatte, ihre Mutter litte unter Halluzinationen. Wie richtig sie mit dieser Annahme lag, hatte sie ja nicht wissen können. Immer noch besser als ein Frauengefängnis, versuchte Zoe sich einzureden.
Ein lautes Klopfen ließ Zoe zusammenfahren. Auf der anderen Seite des Raumes rannte ein spindeldürrer Mann mit medizinischem Kopfschutz in regelmäßigen Abständen gegen die Wand. Den Farbabsplitterungen und der Beule an seinem Helm nach zu urteilen, war dies seine bevorzugte Stelle. Sofort eilte ein Pfleger herbei, um den Mann mit beruhigenden Worten von seiner Tortur abzubringen.
Eine eingehende SMS lenkte Zoe von dem deprimierenden Anblick ab. Sie las die Mitteilung.
»Von Josh«, sagte sie, als Leon sie anblickte. »Er hat ein Sportabzeichen in Leichtathletik bekommen.«
»Beachtlich für jemanden, der mit Sport bislang nichts am Hut hatte«, erwiderte Leon.
»Das Internat bekommt ihm anscheinend gut. Die ersten Prüfungen hat er auch schon geschrieben. Wie es aussieht, erhält er ein Stipendium an der Technischen Universität in München.«
Leon schob anerkennend die Unterlippe vor. »Eine Elite-Uni. Respekt! Er kann froh sein, dass er so einen engagierten Vormund vom Jugendamt zugeteilt bekam.«
»Und über ein bisschen Geld, das ihm seine Oma hinterlassen hat. Jetzt, wo sein Vater als Treuhänder offiziell für tot erklärt wurde, konnte das Testament an Josh zugestellt werden.« Lächelnd tippte sie ihre Glückwünsche ein.
»Er will uns in den Ferien besuchen kommen.«
Auf der anderen Seite der Tür ertönte das Klappern von Schlüsseln, gefolgt von scharrenden Riegeln, die aufgeschoben wurden. Kurz darauf wurde Zoes Mutter in den Warteraum geführt. Obwohl das nicht ganz zutraf. Tatsächlich schritt die Patientin mit hocherhobenem Kopf herein und ließ die Krankenpfleger neben sich aussehen wie ihren Geleitschutz. Sie trug wahrhaftig ein Blümchenkleid zu ihrem locker zusammengebundenen Haar. Zoe fand, ihre Mutter hatte noch nie zauberhafter ausgesehen.
»Grüß dich, Isobel!«, rief der Pfleger, der noch mit dem tobenden Autisten von vorhin beschäftigt war.
Während Zoes Herz vor Aufregung klopfte, löste das Erscheinen ihrer Mutter eine vorübergehende allgemeine Heiterkeit aus. Von allen Seiten wurde sie überschwenglich begrüßt. Isobel nickte huldvoll in die Runde und zauberte einen ehrfürchtigen Ausdruck auf das Gesicht einer Mitpatientin, die ihren Ärmel ergriff, als handelte es sich um die Soutane eines Priesters. Kurz darauf war das Interesse an dem Neuankömmling wieder verflogen, und die Patienten wendeten sich erneut ihren Beschäftigungen zu.
»Na, das nenne
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