Die Traene des Drachen
Tränen in die Augen. Es waren zwei Bilder, die Breanna gezeichnet hatte. Auf dem einen war ihre gesamte Familie zu sehen und auf dem anderen sie selbst, genau wie auf dem Bild in Breannas Schlafzimmer, nur kleiner. Sie drehte die Bilder herum und las die Worte, die Breanna geschrieben hatte. Auf dem Bild mit ihrer Familie stand: Damit du uns nicht vergisst! Wir werden dich nie vergessen und nie aufhören, dich zu lieben. Eleas Kehle wurde noch enger, als sie anschließend noch die Worte auf der Rückseite ihres Porträt las: Damit du nicht vergisst, wie du aussiehst! Deine dich liebende Mutter
Sie musste sich setzen, da ihre Beine zu zittern begonnen hatten. Breanna ging offensichtlich davon aus, dass sie sich nie mehr wiedersehen würden. Sie hat wirklich an alles gedacht. Elea brauchte einen kurzen Moment, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Dann steckte sie die beiden Bilder zusammen mit dem Stück Pergament in die Klappe des Rucksacks und begann, sich umzuziehen. Die lederne Hose passte wie angegossen. Ihr weiches braunes Leder schmiegte sich bequem an ihren Körper. Dann zog sie die Stiefel an, die ebenfalls perfekt passten. Bevor sie die Jacke anzog, wickelte sie das Tuch, das um ihren Kopf geschlungen war, auf. Ein langer dicker Zopf fiel ihren Rücken entlang hinunter. Jetzt hatte sie wenigstens einen Grund, sich ihn abzuschneiden. Auf der Flucht wäre ihr langes, dickes Haar nur eine unnötige Belastung. Sie ging zu ihrem Nachttisch, holte eine Schere heraus und schnitt den Zopf, ohne zu zögern, ab. Ihn in der Hand haltend überlegte sie, was sie damit anfangen sollte. Als sie die leere Schatulle auf dem Tisch erblickte, kam ihr eine Idee. Sie legte ihn hinein. Dann nahm sie ein Stück leeres Blatt Pergament und schrieb mit zitternder Hand: Ich liebe euch alle und werde euch immer in meinem Herzen behalten. Einen Teil von mir lasse ich bei euch. Du musst nicht traurig sein, Breanna. Ich bin froh, dass ich sie los bin. Elea
Anschließend legte sie das Blatt auf den Zopf und schloss den Deckel. Ihr nun schulterlanges Haar umwickelte sie wieder mit dem Tuch. Sie schlüpfte in die langärmlige Lederjacke mit Kapuze, die sich vorne mit fünf Schnallen schließen ließ. Dann befestigte sie noch den zusammengerollten Umhang an ihrem Rucksack, bevor sie ihn aufsetzte. Als letztes musste sie sich aus ihrer beachtlichen Ansammlung von Bögen für einen entscheiden. Die Wahl fiel ihr nicht schwer. Sie nahm den Bogen, den Albin ihr zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Es war ihr erster großer Bogen. Albin war damals so stolz, als er ihn ihr zum Geburtstag überreichte, wahrscheinlich noch stolzer als Elea selbst. Er hatte ihn eigens für sie gebaut. Über den Rucksack schulterte sie schließlich noch einen Köcher voller Pfeile und hängte sich den Bogen um, damit sie beide Hände zum Klettern frei hatte. Nachdem sie Kaitlyn vorsichtig einen Kuss auf die Wange gehaucht hatte und sich ein letztes Mal wehmütig in ihrem Zimmer umgeschaut hatte, atmete sie noch einmal tief durch und hangelte sich aus dem Fenster zum Apfelbaum hinüber. Eine überwältigende Angst nahm von ihr in dem Moment Besitz, als sie sich vom untersten Ast auf den Boden gleiten ließ. Ihr wurde mit einem Schlag bewusst, dass sie von nun an auf sich allein gestellt war. Sie musste gegen den Würgereiz, der ihre Kehle hinaufkroch, schnellstens etwas unternehmen. Also rannte sie erst einmal los. Beim Rennen hatte sie sich am besten unter Kontrolle. Sie schlug zunächst den Weg zum See ein, den sie jedoch später zugunsten eines versteckten Pfades verlassen wollte.
Wie in Trance jagte sie eine ganze Zeit lang über die Baumschatten, die das Mondlicht auf die Erde warf, und horchte nur auf ihr in der Brust heftig hämmerndes Herz und auf ihr vor Anstrengung immer lauter gewordenes Keuchen. Ohne darauf zu achten, wo sie sich gerade befand, hielt sie auf einmal so abrupt an, dass sie zu Boden stürzte. Während sie auf dem Rücken liegend zur Ruhe kommen ließ, überkam sie urplötzlich eine Schwere in Kopf und Gliedern, die unaufhaltsam heranwuchs und sie zu überwältigen drohte. Am liebsten wäre sie einfach hier an Ort und Stelle liegen geblieben, um zu schlafen. Aber diese Idee – so verlockend sie auch war – verwarf sie rasch wieder. Sie richtete sich auf, um besser gegen die Müdigkeit ankämpfen zu können. Schlafen musste sie, das war ihr klar, und zwar möglichst bald. Aber nicht hier, vollkommen ungeschützt mitten auf dem Weg. Sie
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