Die Traene des Drachen
ließ träge ihren Blick umherschweifen und orientierte sich in dem nachtdunklen Wald. An dem versteckten Pfad, der von dem Hauptweg zum See in nördliche Richtung abzweigte, war sie längst vorbei gelaufen. Sie befand sich tatsächlich nicht mehr sehr weit vom See entfernt. Das war gar nicht gut. Denn hier wimmelte es nur so von ihren Spuren. Aber den Weg zurücklaufen wollte sie nicht. Sie war viel zu erschöpft. Heute war sie fast dreimal so viel gelaufen wie üblicherweise. Und dann war da noch dieser aufwühlende Gefühlssturm, der seit dem Morgen ununterbrochen in ihr tobte. Während sie eine Weile darüber nachsann, wo in nicht allzu großer Entfernung ein geeignetes Versteck war, sah sie zum Nachthimmel hoch und erblickte den Mond in seiner vollen Größe. Oh nein! Auch das noch! Wir haben Vollmond. Vielleicht war ihr Häscher bereits auf ihrer Spur? Vielleicht war er noch nicht einmal in Rúbin? Aber darauf durfte sie nicht hoffen. Sie musste jetzt augenblicklich handeln, bevor es zu spät war. Sonst wären all die vielen Vorbereitungen von Breanna vergebens gewesen. Aber wo konnte sie sich nur verstecken? Plötzlich vernahm sie weit entfernt das Heulen eines Wolfes. Das mulmige Gefühl, das unter normalen Umständen bei diesen Lauten ihren Magen auf die Hälfte seiner Größe zusammenkrampfen ließ, war jetzt angesichts der drohenden Gefahr ihrer Verfolger verschwindend klein, sodass sie keinen Gedanken an einen auf sie lauernden Wolf verschwendete. Dafür erinnerte sie sich schlagartig an eine nicht mehr bewohnte Wolfshöhle etwas südlich von ihrem gegenwärtigen Standort. Sie hatte sie erst kürzlich entdeckt, als sie für Breanna nach Alraunwurzeln suchte. Dort konnte sie sich einige Zeit ausruhen und neue Kraft schöpfen. Sie setzte ihren Rucksack ab, holte den Wasserschlauch heraus, trank einen großen Schluck von dem kühlen Wasser und benetzte sich damit noch das Gesicht. Dann stand sie ächzend auf und machte sich trabend auf den Weg zur Höhle. Die bleierne Schwere in ihrem Kopf wurde jedoch bald von der rasch zunehmenden Schwäche ihrer Beine übertroffen. Sie geriet immer öfter ins Straucheln. Endlich hatte sie fast die Höhle erreicht, als sich wie aus dem Nichts ein riesiger Vogel direkt vor ihr auf den Boden stürzte. Sie musste abrupt anhalten, um nicht mit ihm zusammenzustoßen. Nach dem ersten Schreck erkannte sie einen Uhu. Und der Grund für seinen Sturzflug wurde auch sehr schnell sichtbar. Der Vogel hatte sich auf eine Maus gestürzt, die er nun vor Eleas Augen genussvoll mit einer seiner Raubvogelklauen haltend verspeiste. Immer wieder blickte er mit seinen großen im Dunkeln leuchtenden Augen zu ihr auf. Sie fühlte sich beinahe wie hypnotisiert von ihnen. Die Gefühle des Nachtvogels durchdrangen sie regelrecht: Zufriedenheit und Ruhe, jetzt, nachdem er seinen Hunger stillen konnte. Ohne Furcht blieb er vor ihr stehen. Merkwürdigerweise empfand sie den geistigen Austausch mit Vögeln schon immer am intensivsten. Umgekehrt hatte sie immer den Eindruck, dass diese sie auch besser verstanden als andere Tiere. Sie wollte etwas versuchen, was sie bisher noch nie gewagt hatte: Sie bat den Vogel, sie zu warnen, wenn ein Fremder in ihrem Wald auftauchte. Sie konzentrierte sich auf diesen einen Gedanken und übermittelte ihn dem Uhu zusammen mit den Gefühlen, die sie momentan beherrschten: Beunruhigung, Verzweiflung und Angst. Auf diese Weise konnte sie ihm möglicherweise verständlich machen, wie wichtig seine Hilfe für sie war. Anschließend beugte sie sich zu ihm hinunter und strich über seinen Rücken, was er – wie alle Vögel - bereitwillig zuließ.
Mit ihren letzten Kraftreserven marschierte sie, so schnell sie konnte, der Höhle entgegen. Kaum war sie angekommen, ließ sie sich seufzend auf die Knie fallen und schüttelte ihr Gepäck ungeduldig von ihren Schultern ab. Nur einen Wimpernschlag später lag sie schon ausgestreckt auf dem Boden und schlief augenblicklich ein.
Kapitel 3
Herbstabendliches Rot hatte sich bereits über das Grasland gelegt, als die acht morayanischen Krieger in dem kleinen Dorf Rúbin ankamen. Kleine, einfache Häuser tummelten sich wie zufällig um einen Platz. Im Gegensatz zu der fortschrittlichen Bauweise in der Hauptstadt Moray und ihrer Umgebung, wo man zu dem Bau von soliden Steinhäusern übergegangen war, waren Rúbins Häuser allesamt noch aus Lehm und Holz gebaut. Darüber hinaus schien auch hier noch nicht das Handwerk der
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