Die Tränen der Justitia (German Edition)
hier faul ist, natürlich vom Zeitpunkt ihrer Rückkehr an gerechnet, und dann unverzüglich mit ihrer Schlafkappe bei mir aufkreuzt, der seinerseits Amok läuft.»
«Schlafkappe?!»
So also denken die Kollegen über mich. Nett! Ich bin ein skurriler, weltfremder Trottel, der durch die Gänge des Waaghofs irrt, ohne sich darum zu kümmern, was links und rechts passiert.
«Manchmal hat er auch einen lichten Moment. Wie eben, als er vorschlug, dich aufzusuchen. Erzählst du uns jetzt, was los ist?»
«Klar doch, Nadine. Setzt euch. Es ist eine schreckliche Geschichte.»
«Weshalb hast du mich nicht informiert?»
«Weil es nicht zu deinen Aufgaben gehört, Entführte zu suchen, Francesco. Und vor allem, weil Borer es mir ausdrücklich verboten hat. Er wünscht keine Sonderbehandlung, alles soll über den normalen Dienstweg laufen. Aber jetzt, wo ihr schon einmal da seid, können wir uns doch kollegial austauschen.»
Ferrari sass missmutig auf dem Besucherstuhl. Normaler Dienstweg, wenn ich das schon höre. Pah!
«Wie weit seid ihr mit euren Ermittlungen?»
«Ein grosses Wort in diesem Fall. Das Baby ist spurlos verschwunden, und es gibt keine Zeugen, die den Vorfall beobachtet haben. Nichts, rein gar nichts. Die Kollegen suchen fieberhaft, aber wo sollen wir ansetzen? Solange der oder die Entführer sich nicht melden, tappen wir im Dunkeln.»
«Borer glaubt, dass es mit ihm zusammenhängt.»
«Was irgendwie auch logisch wäre, Nadine. Wir haben ein Dossier mit allen möglichen Beteiligten zusammengestellt. Julia Doppler, Lukas Doppler und natürlich auch Jakob Borer. Julia und Lukas kannst du glatt vergessen. Wir haben beide gründlich unter die Lupe genommen. Richtig langweilig, was da zum Vorschein gekommen ist. Familie, Beruf und in erster Linie die Kleine. Bleibt noch Borer.»
«Ein Erpressungsversuch?»
«Wir durchleuchteten seine laufenden Fälle. Nichts Spannendes. Keine grosse Kiste. Natürlich ist es möglich, dass auch ein kleiner Fisch plötzlich durchdreht. Aber es ist keiner dabei, der mit einer hohen Haftstrafe rechnen muss. Nur Kleinkram. Es gibt im Augenblick keinen Mordfall, der zur Verhandlung ansteht, zumindest bei Borer nicht.»
«Wie meinst du das?»
«Staatsanwalt Kern schlägt sich mit dem Irren herum, der seine Freundin beim Kreuzgang vom Münster förmlich an einen Baum genagelt hat.»
Ferrari drehte sich der Magen um, wenn er nur daran dachte. Zum Glück waren Nadine und er nicht im Dienst, als dieser Mord gemeldet wurde. Der Täter wurde am nächsten Vormittag von Kommissär Vettiger und seinem Partner geschnappt. Ein Beziehungsdelikt.
«Ein klarer Fall. Der Mann verfolgt seine Freundin, die ihn verlassen will, stellt sie und stösst ihr ein Messer zwischen die Rippen. Wo ist das Problem?»
«Anscheinend hat er sein Geständnis widerrufen. Und weil alle so sicher gewesen sind, dass es keine Zweifel an seiner Schuld gibt, wurden keine weiteren Ermittlungen angestellt. Aber, wenn du es genau wissen willst, musst du Kern fragen, Nadine.»
«Danke, aber das interessiert uns jetzt wirklich nicht. Zurück zu Borer. Wenn er wirklich die Ursache für die Entführung von Lena ist, muss es mit einem seiner früheren Fälle zusammenhängen. Und das sind wohl einige.»
«Stimmt. Darin liegt auch das Problem. Wo setzen wir an? Nach welchen Kriterien suchen wir? Wie um Himmels willen finden wir den Verurteilten, der Borer abgrundtief hasst und seine Enkelin entführt? Das ist wie ein Sechser im Lotto.»
Bei diesem Stichwort huschte ein Schatten über Ferraris Gesicht. Mist! Ich vergass, meinen PC abzustellen! Jetzt wissen alle, dass ich heimlich wette …
«Schon gut, nur keine Panik. Ich habe deinen Computer ausgeschaltet.»
«Hm!»
Irgendwie unheimlich, Nadine kennt mich in- und auswendig, auch ohne Worte.
«Wir würden gerne das Dossier mitnehmen.»
«Wenn du mir eine plausible Erklärung gibst, kannst du die Akte studieren.»
«Borer ist unser Staatsanwalt. Somit ist es unser Fall!»
«Siehst du, Nadine, genau das meine ich. Dein Partner hat einen Vollknall. Es ist sein Fall, weil es sein Staatsanwalt ist.»
Nadine schnappte sich das Dossier.
«Für einmal muss ich Francesco recht geben. Borer und alles, was nach Borer riecht, gehört uns. Capito?»
Big Georg schüttelte den Kopf.
«Es scheint langsam auf dich abzufärben, Nadine.»
«Auf, auf … Schlafmütze! Aktenstudium ist angesagt.»
Ferrari blätterte die sechs Seiten durch, in Gedanken noch immer bei Georgs
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