Die Tränen der Justitia (German Edition)
fürchten. In Tat und Wahrheit bin ich es, der nicht will. Tief in meinem Innern schreit alles danach, diesen Schritt nicht zu tun, aber ich muss es zum Schutz meiner Familie. Es laufen zu viele Hellers durch die Gegend und noch einmal will ich weder meine Frau noch meine Kinder solcher Gefahr aussetzen. Erneut begann er zu schreiben, kritzelte Wort an Wort, um in der nächsten Sekunde das Blatt zu zerreissen. Es kann doch nicht so schwierig sein! Ich will dem Ersten Staatsanwalt bloss sagen, dass ich meiner Arbeit stets mit grossem Engagement nachgekommen bin, dass ich sie liebe, und zwar nach wie vor. Doch die Ereignisse der letzten zwei Wochen verkrafte ich nicht. Alles ist infrage gestellt. Man muss das Recht suchen und das Glück kommen lassen. Ja, genau. Das sagt sich so leicht. Was, wenn das Glück nicht mehr zurückkehrt? Was, wenn ich nie mehr das Recht finde? Der Staatsanwalt sah sich in seinem Büro um. Die Pflanzen erholen sich langsam wieder, im Gegensatz zu mir. Eines Tages wird die Natur ohnehin über die viel gepriesene Zivilisation siegen. Mir soll es recht sein. Bleibt die Frage, ob ich meine Lieblinge mitnehmen oder meinem Nachfolger überlassen soll? Wird er sie mit der gleichen Inbrunst pflegen oder sie nach meinem Abgang emotionslos entsorgen? Was geschieht mit Anina? Fragen über Fragen. Nur, auf all das kann ich keine Rücksicht nehmen. Borer setzte erneut an und schilderte sachlich die Beweggründe. Na also, geht doch. Als er fertig war, kamen ihm die Tränen. Ich werde sie alle vermissen. Den Brummbär Ferrari und seine arrogante Assistentin, die mir vorgestern den Rest gegeben hat. Anina, die mich jahrelang rührend umsorgte, meine Kollegen Fabian und Georg. So, Schluss jetzt mit diesem Gesäusel. Es muss sein! Mit zittrigen Händen verschloss er den Briefumschlag, erhob sich und begab sich auf den schweren Weg zum Ersten Staatsanwalt.
Ferrari zeichnete Strichmännchen auf einen Block. Wo zum Teufel ist dieser Heller? Nadine sass gelangweilt am Tisch und las die «Basler Zeitung».
«Der Chef reicht seine Kündigung ein!»
Anina Steiner stand weinend in der Tür.
«Woher weisst du das?»
«Er kam eben vom Ersten Staatsanwalt zurück und hat es mir gesagt.»
«So ein Idiot!», brauste Nadine auf. «Wo ist er jetzt?»
«Auf dem Weg zu Julia.»
Ferrari übermalte wie ein Wahnsinniger seine Strichmännchen. Dann warf er den Kugelschreiber gegen die Wand und erhob sich. Instinktiv zog Nadine den Kopf ein.
«Wohin gehst du?»
«Zuerst zu Georg und danach statten wir unserem Staatsanwalt einen Besuch ab.»
Den Weg zum Fahndungschef konnten sie sich sparen, denn bereits auf dem Gang stiessen sie mit dem keuchenden Koloss zusammen.
«Wir haben ihn.»
«Und wo ist er?»
«Zu Hause, aber allein. Seine Freundin ist nicht dabei. Sollen wir ihn verhaften?»
«Wir besuchen ihn. Sucht weiter nach seiner Freundin.»
«Darauf kannst du dich verlassen.»
In einem Streifenwagen mit Blaulicht raste Nadine via Steinentorstrasse und Theaterstrasse den Steinenberg hinauf zum Bankenplatz. Sie kollidierte beinahe mit einem Tram, das Richtung Kunstmuseum fuhr. Unbeirrt drehte sie nochmals voll auf. In fünf Sekunden über die Wettsteinbrücke! Das war rekordverdächtig.
«Wow! Das bringt das Adrenalin in Schwung. Du kannst das Armaturenbrett loslassen, Francesco. Wir sind da.»
Heller schien nicht besonders gut gelaunt zu sein. Doch es gelang ihm, sich einigermassen zu beherrschen.
«Kommen Sie ruhig rein. Leider kann ich Ihnen heute nicht einmal Gift anbieten.»
«Nicht nötig, vielen Dank.»
«Was wollen Sie denn dieses Mal?»
«Wo ist Ihre Freundin?»
«Keine Ahnung. Wir führen eine moderne Beziehung.»
«Wo waren Sie gestern mit ihr?»
«Das möchten Sie wohl gerne wissen, Frau Kupfer. Aber da schweigt des Sängers Höflichkeit.»
«Genug der Floskeln, Herr Heller. Das Spiel ist aus.»
«Oh! Da bin ich gespannt.»
«Wir wissen, dass Sie Lena entführt haben, und wir vermuten, dass ihre Freundin mit ihr untergetaucht ist.»
«Vermutungen sind keine Beweise. Sie enttäuschen mich, Frau Kupfer.»
«Das tut mir leid. Vielleicht gefällt es Ihnen besser, wenn wir zu unkonventionellen Mitteln greifen.»
«Interessant! Was schlagen Sie vor? Wollen Sie mich etwa verhaften und mit einigen schweren Jungs in eine Zelle stecken, die mich dann aufmischen sollen? Mir zittern schon jetzt die Knie. Nur, das bringt Ihnen Ihre Lena auch nicht zurück.»
«Das ist in der Tat so. Wir haben einen
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