Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
Bedingungen einlassen würde?
»Dann bleibe ich bei dir. Lass uns zusammen gehen.«
»Fühl’ dich zu nichts verpflichtet.«
Alix zuckte zusammen.
»Was soll diese Bemerkung, Mathias?«
Ratlos fuhr er sich mit der Hand über die Stirn und entschuldigte sich. Warum war er nur immer wieder so gereizt?
»Es ist nur wegen deiner Tochter«, meinte er verlegen. »Ich dachte, nach dem langen Arbeitstag hättest du bestimmt Sehnsucht nach ihr.«
»Valentine ist bei Lisette, die ihr von ihrer Milch gibt. Die übrige Zeit verbringt sie unter der Obhut von Bertille und Tania.«
»Kennst du Tania wirklich gut genug, dass du ihr deine Tochter anvertrauen kannst?«, fragte Mathias erstaunt.
»Aber ja, da muss ich mir gar keine Sorgen machen.«
»Bist du ganz sicher?«
Mit einem Mal fiel Alix ein, dass sie Théodore mit keinem Wort erwähnt hatte. Warum hatte sie den jungen Mann verschwiegen, der mit dem kostbaren Rennpferd geflüchtet war, das Alessandro ihr geschenkt hatte? Früher oder später würden Bertille und Mathias doch von seiner Existenz erfahren, weil sich Angela oder Leo bestimmt verplapperten. Doch im Moment wollte sie Mathias lieber nichts erzählen.
»Ja, ich bin mir ganz sicher«, antwortete Alix widerwillig.
»Aber sie ist eine ehemalige Sklavin. Wird sie nicht versuchen …«
»Was soll sie denn versuchen?«, unterbrach sie ihn und seufzte ungeduldig über die ungute Wendung, die ihr Gespräch genommen hatte.
»Ach, nichts«, lenkte er ein und zuckte die Schultern. »Du wirst schon recht haben. Lassen wir das Thema.«
»Das wäre mir sehr lieb. Reden wir von etwas anderem.«
Die Spannung wich von ihr, aber sie fand nicht gleich wieder zu ihrem Lächeln zurück.
»Ich möchte dir die Zeichnungen zeigen, die ich aus Florenz mitgebracht habe. Willst du sie dir ansehen? Sie sind von dem Maler Raffael.«
»Hast du ihn kennengelernt?«
»Aber ja! Hier sind seine Zeichnungen für die Vatikanwerkstätten.«
Sie führte ihn zu den Kartons, die sie auf einen Tisch gelegt hatte. Sie hatte sie Mathias erst zeigen wollen, wenn sie alleine waren.
»Ich finde sie großartig! Aber mehr will ich jetzt nicht sagen. Ich will erst deine Meinung dazu hören.«
Alix breitete die Zeichnungen vor Mathias aus, und sie teilten diesen Augenblick gemeinsamer Begeisterung, in dem aller Groll,
alle Ängste und Schmerzen vergessen waren. Plötzlich schwebten sie hoch über den Niederungen des Alltags. Natürlich waren diese Zeichnungen nur Entwürfe des großen Meisters, aber man ahnte bereits die Pracht, die sie später einmal auf großen Tapisserien entfalten würden. Schon jetzt waren sie von unvergleichlicher Schönheit. Vom ersten Augenblick an nahmen sie in der schöpferischen Fantasie der beiden Weber Gestalt an.
»Keine Millefleurs«, sagte Mathias leise.
»Und auch keine Wappenschilder und Fahnen, keine Embleme und keine Symbole. Nichts erinnert an Gewesenes. Nein, nichts deutet an, beschwört herauf. Genauso will ich Augustus und die Sibylle weben.«
»Im Gegenteil«, bekräftigte Mathias überwältigt von den einzigartigen Bildern. »Alles ist wie in Wirklichkeit. Die Tiere, die Menschen, die Pflanzen, selbst die Augen wirken echt. Es ist unglaublich! So etwas habe ich noch nie gesehen. Dieser Raffael ist ein Genie!«
»Mit dieser Meinung bist du nicht allein. Nicht umsonst hat ihn Papst Julius II. in den Vatikan geholt.«
Mathias sah sich die Zeichnungen ganz genau an, dem Fachmann entging nicht das kleinste Detail.
»Hast du bemerkt, wie winzig klein das zentrale Motiv ist, Mathias? Auf den ersten Blick scheint es wie verloren, doch dann sieht man auf einmal nichts anderes mehr. Raffael nennt diese Zeichnungen übrigens Grotesken .«
Sie kam ihm ganz nahe, und er legte wie früher, ganz ohne Hintergedanken, einen Arm um ihre Schultern.
»Am liebsten würde ich sofort mit der Arbeit beginnen«, erklärte Alix voller Ungeduld. »Ich möchte eine der Zeichnungen auf die Schussfäden übertragen. Kannst du mir die Proportionen berechnen, Mathias? Die Teppiche sollen gigantisch werden.«
»Gigantisch?«
»Unsere Hochwebstühle sind groß genug.«
Sie spürte den beruhigenden Druck seiner Hand und war glücklich darüber.
»Warum willst du sie so groß haben?«
»Weil ich Raffaels Signatur gekauft habe und die fertigen Teppiche François d’Angoulême anbieten will. Diese Tapisserien werden ein Vermögen wert sein, und Louise wird sie mir abkaufen, ohne nach dem Preis zu fragen. Ich weiß, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher