Die Traenen des Mangrovenbaums
»Willst du diesen Mann …«
U nd so frage ich dich: Willst du, Anna Lisa Lobrecht, diesen Mann zu deinem dir angetrauten Gatten nehmen?«
Anna Lisa blinzelte. Wie unheimlich dunkel es in der Kirche war, trotz der glühenden Hitze, die die vielflammigen Kerzenleuchter verbreiteten! Die Stimme des Pfarrers hallte ihr in den Ohren. Schweiß brach ihr unter den Achseln und am Haaransatz aus, eine eisig tropfende Feuchtigkeit, die sie so gern abgewischt hätte. Aber womit? Womit nur? Sie blickte an sich hinunter – die reich gefältelten Manschetten aus Brüsseler Spitze hingen bis zum Boden hinab, ja, schleiften wie Schleppen auf den Fliesen entlang, sodass sie ihre Hände kaum finden konnte. Ihr Brautkleid hatte sich in eine ständig wachsende weiße Wolke verwandelt, die sie zu ersticken drohte. Ihre Umgebung wurde immer eigenartiger. Der Geruch nach Kerzenrauch und süßen Blumen stach ihr aufdringlich in die Nase. Sie bekam Angst. Sie musste weg, musste von hier fliehen, bevor es zu spät war.
»Ich frage dich, willst du diesen Mann …«
Die Stimme schien sich im Kreis um sie herum zu bewegen, während kein noch so winziger Laut aus dem versammelten Publikum drang. War da überhaupt ein Publikum? Oder war sie allein mit dem Priester und dem Bräutigam in dieser ungeheuren grauen Kirchenkaverne? Nach Atem ringend, einer Ohnmacht nahe, stützte Anna Lisa sich auf das Altargitter und setzte zu einer Antwort an. Sie spürte die tödliche Kälte, die vom Fußboden herauf zu ihr aufstieg. Ihre Füße schienen in Bleischuhen zu stecken. Ihr Hochzeitskleid fiel in Kaskaden von weißer Seide und isabellfarbenen Spitzen über ihre Füße zu Boden. Es lag dort nicht einfach nur ausgebreitet, so weit, dass es den gesamten Altarraum wie ein Teppich bedeckte – es schien auf den Steinplatten festgenagelt zu sein, denn wie sie auch daran zog und zerrte, es rührte sich nicht!
Wollte sie diesen Mann zu ihrem angetrauten Gatten nehmen? Wollte sie das? Aber um welchen Mann ging es denn überhaupt? Da stand er in seinem glänzend schwarzen Anzug, aber sein Gesicht konnte sie nicht sehen. Er war so tief verschleiert wie sie selbst. In nebelhaften Falten hing ein Spitzenschleier, weiß wie Raureif, über seinen Kopf. Eisige Kälte durchschauerte die Braut. Man wollte sie mit einem Toten verheiraten, deshalb war sein Gesicht vermummt!
Sie musste weg, musste von hier fliehen, bevor es zu spät war!
Aus weiter Ferne klang die Stimme des Pfarrers, kam näher und näher mit einem Ton wie einer über den Boden rollenden Kegelkugel, und sie beide waren die Kegel! Das Rollen erschütterte den Boden, widerhallte bis in die letzten Winkel der von schwarzen Schatten und zuckenden Lichtlein erfüllten Kirche. Die Kegel schwankten. Ein Stoß, und sie würden beide tot umfallen …
»So erkläre ich euch für Mann und Frau.«
Jemand, der einen penetrant süßen Schokoladenduft ausströmte, flüsterte ihr ins Ohr: »Nur ruhig, Anna Lisa, lass dich nicht verwirren! Es ist in Holland so Sitte, dass auch der Bräutigam einen Schleier trägt, wenn er vor der Hochzeit stirbt. Aber heb ihn ruhig! Jetzt bist du verheiratet und darfst den Bräutigam küssen. Ja, jetzt musst du ihn küssen. Sieh nur, du trägst ja schon sein Zeichen.«
Sie senkte den Blick auf ihre Rechte. Am Ringfinger glänzte kalt und grell ein goldener Ring. Das Metall brannte auf ihrer Haut, es klebte daran, wie Haut bei Frost an Eisen haften bleibt. Nie wieder würde sie diesen Ring abnehmen können!
Plötzlich waren da viele Menschen um sie, eine zischelnde Menge gesichtsloser Personen, deren Wispern alles andere als wohlwollend klang. Man drängte sie, schob sie vorwärts, zupfte und schubste sie – aber ein erstickendes Grauen befiel sie bei dem Gedanken, den kostbaren weißen Spitzenschleier zu lüften und das Gesicht darunter zu sehen, denn obwohl sie ihren Bräutigam nicht kannte, wusste sie, dass sein Gesicht entsetzlich sein würde. Sie schrie und schlug um sich und verwickelte sich immer mehr in die Wolken aus Seide und Klöppelspitze ihres Brautkleides …
»Fräulein, um Himmels willen, Sie fallen mir ja aus dem Bett!«
Mit einem heftigen Ruck kehrte Anna Lisa Lobrecht zurück in die Realität – in ihr Vaterhaus im Hamburg des Jahres 1880. Knotige Hände packten zu, befreiten sie aus den erstickenden Stoffwolken. Als wäre sie noch ein Kind, streichelte und liebkoste ihr ehemaliges Kindermädchen sie, tätschelte ihr die Wangen, um sie vollends
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