Die Traenen des Mangrovenbaums
geformten Hände und Füße, die großen, träumerischen Augen. Sie hatte neben seiner Intelligenz auch seine Neigung zur Melancholie geerbt, aber da sie weniger Anlass hatte, unglücklich zu sein, blieb diese Neigung bei ihr ein Schatten im Hintergrund. So innig sie ihren Vater liebte, so feindselig zeigte sie sich anderen Männern gegenüber. Selbst ihrem Großvater und ihren Onkeln brachte sie allenfalls eine frostige Höflichkeit entgegen. Anna Lisa hegte bald den Verdacht, dass dieses schöne Mädchen niemals heiraten würde. Aber sie sprach nie mit Simone darüber. Sie sprach eigentlich überhaupt nicht mit ihr, es sei denn über die alltäglichen Kleinigkeiten, die im familiären Verkehr unumgänglich waren. Manchmal schien es ihr, als hätte Simeon damals bei der Geburt des Kindes einen Fluch ausgesprochen, als er sagte: »Aber das Mädchen musst du mir lassen, das ist ganz meines.«
So hatte Anna Lisa fast nur in den Nächten Gelegenheit, den Gatten ganz für sich zu haben, und es waren sehr zärtliche Nächte. Das Gift hatte Simeons Fruchtbarkeit zerstört, sodass sie keine weiteren Kinder bekamen, aber es hatte seine Männlichkeit verschont, und beide Gatten liebten es, sich einander lange, geduldig und mit inniger Liebe zu widmen. Anna Lisas Ehebruch hinterließ keinen Riss in ihrer gegenseitigen Zuneigung. Herrn Raharjos Name wurde nie erwähnt, aber Anna Lisa hatte das sonderbare Gefühl, dass Simeon ohne Groll an den einstigen Nebenbuhler zurückdachte – fast, als wäre er kein Mann wie er selber gewesen, der ihm Konkurrenz machen konnte, sondern wirklich ein Feenkönig, ein schönes, unirdisches Wesen, das eine Menschenfrau besucht hatte und dann wieder in seinem eigenen Reich verschwunden war.
Gesine Schreiner war längst von einer Dienerin zu einer Freundin geworden. Schon als sie noch in Java lebten, war hauptsächlich sie es, mit der Anna Lisa ihre Sorgen und Freuden teilte. Die junge Frau hatte ihre Freude an dem wachen Verstand des Mädchens. Da Gesine, als sie ihr das erste Mal begegnete, weder lesen noch schreiben konnte, füllte Anna Lisa ihre Zeit damit aus, ihr diese Fertigkeiten beizubringen. Sie stellte dabei fest, dass Gesine fähig war, noch weitaus mehr zu lernen, und brachte ihr alles bei, was sie selbst wusste – wobei sie feststellte, dass das nicht eben viel war. Mitgerissen von der Wissbegier ihrer Gefährtin, begann sie selbst, Neues zu lernen.
Und nun, wo sie, frei von Geldsorgen, frei von gesellschaftlichen Verpflichtungen, in ihrer Villa an der Rothenbaumchaussee nahe der Alster wohnte, waren die beiden Frauen einander nicht nur in tiefer Freundschaft verbunden, sondern auch durch ein gemeinsames Interesse am Lernen. Sie lasen gemeinsam Bücher, sie lasen einander vor, sie studierten Meyers Konversationslexikon zu jedem Thema, das sie interessierte, sie gingen gemeinsam ins Theater und zu den Vorführungen der neumodischen Kinematografen.
Als die Zwillinge fünfzehn Jahre alt waren, starb Simeon Vanderheyden. Eine Grippewelle, die Hamburg im Frühherbst heimsuchte, brachte dem seit so vielen Jahren kränkelnden Mann den Tod.
Anna Lisa hatte damit gerechnet, schon in jungen Jahren Witwe zu werden; dennoch traf der Tod ihres Mannes sie hart. Wäre Gesine nicht als ihre treue Freundin an ihrer Seite gewesen, so hätte der Schlag sie vollends zerschmettert. Ihre Kinder waren ihr kein Trost. Jakob war auf See, es würde lange dauern, bis er von Simeons Tod erfuhr, und noch länger, bis er nach Hause zurückkehrte. Simone sprach mit niemandem. Noch während der Verstorbene, wie es Sitte war, im Hause aufgebahrt lag, schloss sie sich in seinen Zimmern ein, setzte sich an seinen Platz und beschäftigte sich mit seinen Herbarien. Der inzwischen auch schon betagte Elmer Lobrecht war keine Hilfe, wo es um Trauer und Kummer ging, und ebenso wenig die drei Brüder, denen nichts Besseres einfiel als der Trost, sie sei noch jung und könne noch einmal heiraten.
Anna Lisa aber dachte gar nicht daran. Jetzt, wo beide Männer, die einen Platz in ihrem Herzen gehabt hatten, tot waren, mochte sie sich nicht einmal vorstellen, einen dritten zu nehmen. Sie wusste überhaupt noch nicht, was sie in Zukunft tun wollte.
Die drei Tage bis zum Begräbnis zogen sich quälend hin. Erst hatte Anna Lisa die Stunde gefürchtet, da sie an den bedrückenden Zeremonien teilnehmen musste, die in einer großbürgerlichen Familie unumgänglich waren. Dann wieder empfand sie Ungeduld, konnte die Stunde
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