Die träumende Welt 02 - Das Schattenreich
1 . KAPITEL
Warum ist es immer so dunkel?
Sie hatte ihn jetzt mehrere Male gesehen. Jedesmal war Hoffnung in ihr aufgekeimt, um sofort von der Unmöglichkeit dessen, deren Zeugin sie geworden war, zunichte gemacht zu werden. Manchmal sah sie mit seinen Augen, dann war das Bild verschwommen und furchteinflößend. Einmal hatte sie gesehen, wie er quälend langsam durch einen schwarzglänzenden Tunnel gekrochen war. Das einzige Licht spendete ein schwaches, widerwärtig kaltes Leuchten an der Wand.
Dann waren die anderen gekommen. Sie sah sie niemals deutlich, wusste aber, dass sie Angst und Hoffnung mit sich brachten, Argwohn und vor allem ein greifbares Gefühl der Andersartigkeit. Ihre Gesichter konnte sie nicht sehen - wenn sie überhaupt Gesichter hatten.
Doch diesmal war es offenbar anders. Er lag auf dem Rücken in einem größeren Raum als zuvor. Hier war es trocken. Kein Wasser rauschte vorüber, von den Wänden ringsum fielen keine Tropfen. Nichts glitzerte, nichts bewegte sich in dem schwachen, gebrochenen Licht, das von oben hereinfiel. Nur die stete Dunkelheit schien real.
Das unerträgliche Gefühl der Einsamkeit während ihrer früheren Einblicke war verschwunden. Selbst die Schmerzen hatten nachgelassen. Nur die Verwirrung war geblieben.
Wo bist du?
Sie glaubte nicht wirklich an ein Leben nach dem Tod, wusste aber, dass andere so dachten. Aber so war es ganz bestimmt nicht. Das war zu grausam, zu wenig überzeugend.
Nein!
Die Konsequenzen ihrer Gedanken machten ihr Angst.
Er ist nicht wirklich tot !
Davon war sie aller Vernunft zum Trotz überzeugt.
Sie blickte auf die Gestalt, die reglos unter ihr lag. Er hatte die Augen geschlossen, die Arme über der Brust verschränkt. Ob er atmete oder nicht, wusste sie nicht zu sagen. Seine untere Körperhälfte war von einer Art Tuch verdeckt.
Die Luft um ihn war kühl und still. Sie schwebte darin wie der Mond am Himmel, ein gespenstischer Schein, der nichts beleuchtete. Ob dieser Ort ein Teil ihrer Welt war oder nicht, eins stand fest: Wo immer er sich befand, dort schien nie die Sonne. Ein Schattenreich.
Unidentifizierbare schwarze Schatten schoben sich in ihr Blickfeld, und sie, hilflos den gemischten Gefühlen ausgeliefert, den diese fremdartigen Erscheinungen jedesmal hervorriefen, zuckte zusammen. Sie bewegten sich auf die liegende Gestalt zu, schienen sich über sie zu beugen und nahmen ihr fast die Sicht auf sie.
Tut ihm nicht weh!
Der Schrei kam ungewollt. Abgesehen von ihrer Angst vor dem Unbekannten hatte sie keinen Grund, diesen mysteriösen Geschöpfen zu misstrauen. Ob sie dinglich waren oder ob es sich um eine andere Lebensform handelte, konnte sie nicht sagen, und nie konnte sie auch nur eine einzige Einzelheit ihres Äußeren klar erkennen. Sie kamen und gingen schweigend, als Schatten im Schatten.
Nach einer Weile zogen sie sich ohne Eile zurück, verschmolzen mit der Dunkelheit.
Er hatte sich nicht bewegt, doch sein Gesicht zeigte ein wenig mehr Kraft, und das Gefühl von Schmerzen war weniger deutlich ausgeprägt. Sie atmete erleichtert auf. Sie hatten ihm nicht weh getan. Vielleicht hatten sie ihm sogar geholfen! Das Glücksgefühl, das dabei in ihr aufstieg, zerplatzte schon wenig später wie eine Seifenblase, als sie die Erkenntnis überwältigte, wie wenig sie doch wirklich wusste.
Kannst du mir kein Zeichen geben ?
Ihre Seelenqualen waren so groß, dass sie fast fortgesehen und den Kontakt abgebrochen hätte. Doch eine stärkere Kraft hielt ihren Blick gefangen. Wie hoch der Preis auch sein mochte, sie war bereit, ihn zu bezahlen. Wieviel Kummer ihr diese düsteren Visionen auch bereiten mochten, sie waren jeden Augenblick wert. Der Grund war einfach.
Ich liebe dich.
Sie riss die Augen auf, und eine neue Woge des Glücks überkam sie.
Kannst du mich hören ?
In diesem Augenblick erkannte sie völlige Verwirrtheit in seinen Augen. Sein Blick wanderte wild umher, obwohl er den Kopf nur ein kleines Stück bewegen konnte. Der Ausdruck von Schmerz kehrte in seine Augen zurück, und die Vision verblasste.
Ich liebe dich.
Er war verschwunden. Es war vorbei, und sie weinte vor Erleichterung darüber, dass ihre Qualen vorüber waren, und sehnte sich nach dem nächsten Mal, dem nächsten Kontakt.
Es war alles, was ihr noch geblieben war.
2 . KAPITEL
»Ich habe gestern Nacht wieder von Arden geträumt«, berichtete Gemma ihrer Freundin Mallory am nächsten Morgen.
»Ich weiß«, gab sie zurück. »Ich habe dich gehört.
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