Die träumende Welt 02 - Das Schattenreich
Du hast so verzweifelt geklungen, dass ich dich fast geweckt hätte.«
»Nein!« erwiderte Gemma sofort. »Das darfst du niemals tun!«
Mallory wandte sich von ihrer Backerei ab und sah Gemma mit einer Mischung aus Besorgnis und Traurigkeit im Gesicht an.
»Es sind nur Träume, Gemma.«
»Nein. Sie sind mehr als das.« Die beiden Frauen hatten diesen Streit schon mehrere Male ausgefochten. Zwar hatte Mallory Logik und gesunden Menschenverstand auf ihrer Seite, aber sie wusste, dass sie Gemma niemals von Ardens Tod überzeugen konnte, solange es keine Beweise gab. Und es bestand praktisch keine Chance, dass jemals ein Beweis auftauchen würde.
Arden hatte sich im Hochgebirge verlaufen, weit im Süden des Tales. Er war zur selben Zeit verschwunden, als auch ein ganzer Berg versetzt worden war: durch einen Vorgang, den Mallory hinnahm, aber nicht begriff. Er hatte mit Magie zu tun und war von Gemma ausgelöst worden. Während das Ergebnis in Mallorys Heimattal mit Freude aufgenommen wurde - ein Fluss war auf ihr vertrocknetes, sterbendes Land zurückgeführt worden -, kamen die Auswirkungen in den Bergen denen eines Erdbebens gleich, dessen Zentrum sich genau dort befand, wo Arden stand. Obwohl Mallory und die Bewohner eines nahen Dorfes überall nach ihm gesucht hatten, hatten sie nur sein Pferd und seine Ausrüstung gefunden. Arden selbst blieb spurlos verschwunden. Gemma war mit ihrem Glauben allein, dass er sowohl das Erdbeben und den damit verbundenen Steinschlag als auch die tumultartige Woge des umgeleiteten Wassers überlebt hatte.
Diese Ereignisse lagen jetzt fast vier Monate zurück. Seit mehr als der Hälfte dieser Zeit war Gemma bereits wieder im Tal. Sie war in der Erwartung angekommen, Arden dort anzutreffen, und war außer sich gewesen, als Mallory ihr von seinem Verschwinden berichtete. Seitdem hatte nicht einmal die wundersame Wiederbelebung des Tales und seiner besonderen Bewohner Gemma für länger aus ihrer Schwermut reißen können. Sie hielt hartnäckig an der Hoffnung fest, dass Arden eines Tages zurückkehren würde. Zumindest in ihren Augen waren ihre Träume ein starker Beweis dafür, dass er noch lebte - irgendwo.
Mallory musste Gemma auf andere Weise überzeugen - oder zusehen, wie ihre Freundin sich unablässig quälte. Jetzt ließ sie ihre Arbeit stehen und setzte sich zu Gemma an den Küchentisch. Sie legte ihre noch immer vom Mehl staubigen Hände über Gemmas und sah ihre Freundin besorgt an. Gemmas normalerweise helle Gesichtsfarbe war durch das Leben draußen dunkler geworden, und ihre Sommersprossen fielen kaum noch auf. Das feuerrote Haar, in diesen südlichen Gefilden eine Seltenheit, fiel ihr über die Schultern. Ihren weichen grauen Augen drückten deutlich ihre Schuldgefühle aus, ihr Bedauern und ein gehöriges Maß an Trotz. Mallory sah all dies, und es tat ihr in der Seele weh. Sie hatte Arden auf ihre Weise sehr gemocht, doch ihr Schmerz über seinen Verlust war mit Gemmas nicht zu vergleichen.
»Träume entstehen im Kopf«, sagte sie langsam.
»Gewöhnliche Träume, ja«, antwortete Gemma augenblicklich. »Diese jedoch stammen von ihm.«
»Das ist doch Wunschdenken. Du möchtest glauben, dass Arden noch lebt, also zauberst du ihn dir auf diese Weise herbei.«
»Wenn das stimmt, warum befindet er sich in meinen Träumen dann an einem so grauenvollen Ort?« wollte Gemma wissen. »Warum nicht an einem angenehmen Ort, wie hier in diesem Tal? Ich möchte doch, dass er hier ist.«
»Weil Träume so nicht funktionieren«, meinte Mallory sanft. »Wer weiß, woher wir diese Bilder nehmen.«
»Es ist immer so dunkel dort«, fuhr Gemma fort und schauderte bei dem Gedanken. »Immer.«
»Hast du ihn wieder in diesem Tunnel gesehen?«
»In einer Art Höhle diesmal. Einer großen Höhle. Er lag einfach da und bewegte sich nicht.« Gemma blickte ihre Gefährtin an. »Es gibt doch Höhlen in den Bergen, oder?«
»Ja, ein paar, aber nicht dort, wo er verschwunden ist«, antwortete Mallory bestimmt. »Wir haben die gesamte Gegend abgesucht, das weißt du doch.«
Doch Gemma hörte nur halb zu.
»Ich hätte selber nach ihm suchen müssen«, meinte sie leise. »Ich hätte gewusst, wo er steckt.«
»Ach, hör endlich auf, dich zu quälen«, wies Mallory sie scharf zurecht und hoffte, Gemma damit aus ihrer Niedergeschlagenheit zu reißen. »Wir haben schon dutzendfach darüber geredet. Als du hierherkamst, warst du nicht in der Verfassung, irgendwohin zu gehen. Du bist gerade
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