Die Traumfängerin - Roberts, N: Traumfängerin
war daran gewöhnt, dass sich andere Menschen auf sie verließen. Schon als kleines Mädchen hatte sie Verantwortung für ihre Mutter übernommen. Sie war eine liebevolle, warmherzige Frau, aber unfähig, die Dinge des Alltags zu organisieren. Oft war es A. J. so vorgekommen, als hätten sie die Rollen getauscht. Nicht sie, sondern ihre Mutter hatte streunende Hunde auf der Straße aufgelesen und voller Begeisterung heimgebracht, während A. J. sich fragte, wie sie das Hundefutter bezahlen sollten. Dennoch liebte sie ihre Mutter und hatte immer gewusst, dass diese sie niemals im Stich lassen würde.
Manchmal fragte sich A. J., ob sie selbst anders geworden wäre, wenn ihre Mutter anders gewesen wäre. Konnte man die Vorsehung in diesem Punkt überlisten? A. J. musste über sich selbst lachen. Es wäre spannend, das mit Clarissa zu diskutieren , dachte sie.
Sie reckte sich und stand auf, um sich in dem weitaus bequemeren Sessel niederzulassen. Er war riesig und unpraktisch. Doch sie hing an ihm, denn er war ein Geschenk ihrer Mutter. Sie hatte dieses Ungetüm aus kornblumenblauem Leder eines Tages angeschleppt, mit der Begründung, der Bezug habe dieselbe Farbe wie die Augen ihrer Tochter.
A. J. riss sich zusammen und konzentrierte sich auf Clarissas Vertrag. Schließlich war sie hier, um zu arbeiten, und nicht, um sich in Kindheitserinnerungen zu verlieren.
Wie diszipliniert A. J. war, bewies ein Blick auf ihren ordentlichen Schreibtisch. Kein Bilderrahmen, kein hübscher Briefbeschwerer störte den eigentlichen Zweck des Tisches: Hier sollte effektiv und ohne Ablenkung gearbeitet werden.
Sie hatte noch eine halbe Stunde Zeit, ehe sie sich mit David Brady traf. Bis dahin wollte sie jeden Absatz, jede Klausel des Vertrages kennen und genau wissen, welche Vereinbarungen nachgebessert werden mussten. Sie war gerade auf der letzten Seite angelangt, als die Gegensprechanlage summte. A. J. drückte den Knopf.
„Ja, Diane?“
„Mr Brady ist hier.“
„Führen Sie ihn bitte herein. Und setzen Sie frischen Kaffee auf.“
Sie schloss die Akte und erhob sich erst, als der Produzent eintrat. „Mr Brady.“ Höflich reichte sie ihm die Hand über den breiten Tisch hinweg. Der Abstand signalisierte eine höfliche Distanz, die sofort deutlich machte, dass die Gesprächspartner auf verschiedenen Seiten standen. Aus ihrer jahrelangen Erfahrung wusste A. J., wie wichtig es war, schnell die Fronten zu klären. Während er durch den Raum auf sie zukam, hatte sie Zeit, ihn genau zu be trach ten und sich ein erstes Ur teil zu bilden. Ersah eher wie ein Schauspieler aus, weniger wie ein Produzent. Ja, diesen starken, männlichen Typ hätte sie erfolgreich vermitteln können. Sie stellte ihn sich als wortkargen, wagemutigen Detektiv in einer der Vorabendserien vor oder als einsamen Cowboy auf dem Ritt durch die endlose Wüste. Schade.
Auch David nutzte den Moment, um seine Gesprächspartnerin zu mustern. Er hatte nicht geahnt, dass sie so jung war. In ihrem strengen, gerade geschnittenen Hosenanzug wirkte sie sehr professionell und geschäftstüchtig. Sie war äußerst attraktiv, allerdings bevorzugte er weichere, weniger streng wirkende Frauen. Ihre überaus schlanke, durchtrainierte Figur verriet Disziplin. Nur durch ihre knallrote Bluse, die sie unter dem Blazer trug, wurde ihre Garderobe vor der völligen Unauffälligkeit gerettet. Das hellblonde kinnlange Haar war streng zurückgestrichen und gab den Blick frei auf ein ovales Gesicht, sonnengebräunt – oder hatte sie nachgeholfen? Ihr Mund war fast eine Spur zu breit, doch ihre Augen waren von einem faszinierenden Blau, das mit Mascara und Lidschatten gekonnt betont wurde. Selbst ihre große Brille konnte den Zauber der Augen nicht verbergen. Als er sie begrüßte, empfand er ihren Händedruck als wohltuend fest.
„Setzen Sie sich doch, Mr Brady. Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“
„Nein, vielen Dank.“ Zuvorkommend wartete er, bis sie hinter ihrem Schreibtisch Platz genommen hatte, ehe er sich setzte. Er bemerkte, dass sie die Hände schützend über dem Vertrag faltete. Sie trug keine Ringe, keinen Armreif, nur eine Uhr mit einem schmalen schwarzen Lederarmband. „Es scheint so, als hätten wir gemeinsame Bekannte, Miss Fields. Seltsam, dass wir uns noch nie begegnet sind.“
„Ja, nicht wahr?“ Sie lächelte höflich und nichtssagend. „Aber Sie verstehen sicher, dass ich mich als Agentin überwiegend im Hintergrund halte. Sie haben sich mit Clarissa
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