Die Treppe im See: Mystery-Thriller (German Edition)
Grab zurückkehren. Am Abend seines ersten Todestages war ich fest davon überzeugt, dass er mich holen kommen würde. In jener Nacht fand ich keinen Schlaf; zu angespannt war ich, saß aufrecht im Bett und wartete darauf, dass er sich barfuß mit triefenden Fetzen am Leib über den Flur schleppte. Dann würde er mein Zimmer betreten, mit Knochenbrüchen, eingeschlagenem Schädel und einem Teint in gotteslästerlichem Blaugrün wie Schimmel, der auf Brot wächst, und der mich nicht mit seinen Augen anstarrt, sondern mit schwarzen, seelenlosen Löchern in seinem Kopf, aus denen schlammiges Wasser an seinem verwesenden Gesicht hinablief.
Er würde mit einem anklagenden Finger zu mir deuten, während er in meiner Tür stand, in einer Pfütze dunklen Wassers. Du hast mir das angetan , würde er dann sagen. Du hast mir das angetan, Travis. Als mein älterer Bruder war es deine Pflicht, auf mich aufzupassen, doch stattdessen hast du mich umgebracht. Jetzt bin ich hier, um dich mitzunehmen – zurück ins Wasser, wo du versinken und auseinanderfallen wirst wie zerbrochenes Glas.
Ich dachte wieder: Du hast mir das angetan. Ein Teil des Selbst stirbt, wenn man seinen Bruder umbringt.
Infolgedessen begann ich, mich nachts in meinem Zimmer einzusperren. Niemand schien sich etwas dabei zu denken, also schwieg man sich aus. Wälzte sich mein alter Herr gelegentlich im Suff aus dem Bett und torkelte ins Bad, schlug mein Herz bis zum Hals, und auf meiner Haut bildete sich ein dünner Schweißfilm. Ich war mir sicher, Kyle würde kommen. Erst als ich die Klospülung hörte, wusste ich bestimmt, dass ich vorerst davongekommen war. Bald aber … bald …
In meinen Träumen raste ich durch einen kaleidoskopischen Trichter, in dem mannigfaltige Eindrücke über mich hereinbrachen – von eisigem Wasser dunkel wie der unendliche Raum, von ewiger Schwebe und Angst vor dem Fall, der doch nie erfolgte, vom dumpfen Aufschlag von Knochen auf fester, aber unsichtbarer Oberfläche.
Ein wiederkehrender Albtraum, in dem ich durch ein Labyrinth aus Lattenzaun, dessen Spalten und Astlöcher im Holz hetzte und ständig Blicke auf die Freiheit erhaschte, die dennoch unerreichbar blieb. Zuletzt brach ich erschöpft zusammen und stellte fest, dass der Boden unter mir nicht mehr fest war, sondern ein bloßes Miasma aus zu Wolken verdichtetem Qualm wie Treibsand. Ich kämpfte gegen den Erstickungstod an, wusste aber, dass es zwecklos war, und musste mich immer tiefer hineinziehen lassen, allerdings nicht vom Sand, sondern einem Paar Hände an meinen Fußgelenken.
Die Leblosigkeit im Haus nahm ebenso zu – einengend, zerrüttend und finster wie der Schlund der Hölle, und ungefähr so subtil wie ein Steinschlag.
Mit achtzehn zog ich aus, da meine Eltern von Rechtswegen her nicht mehr über mich verfügten. Was folgte, war eine irre Serie von Fehltritten, die besser unausgesprochen bleiben. Die Bekanntschaften, die ich in jener Phase meines Lebens machte, schienen sich zum Vorsprechen für einen miesen Film herausgeputzt zu haben – Lederjacken, Siebziger-Shirts mit weiten Kragen, Tätowierungen, teilweise rasierte Schädel und Piercings an allen möglichen Stellen und sie misstrauten jedem, der sich nur unmerklich von ihrer Clique abhob – und ich handelte mir eine Menge Ärger ein, auf den wirklich niemand stolz sein sollte. Bei Schlägereien zog ich mir blaue Augen und nicht nur einen Satz heiße Ohren zu, vor allem auch eine nicht ungefährliche Schnittwunde am linken Bizeps, nachdem ein überempfindlicher Fremder sein Butterfly-Messer aus Reflex über meinen Arm gezogen hatte.
Nachts schlief ich an U-Bahn-Haltestellen auf Bänken, wobei ich hinter jedem mitternächtlichen Schritt meinen Bruder wähnte, der kommen musste, um mich zu holen. Du hast mir das angetan . Am Ende jedoch war all dies unerheblich, weil ich in der unbestimmten Gegenwart lebte, eine Raupe in permanenter Transformation, ein Gebirgsbach auf der Suche nach dem großen Fluss. Fand ich ihn, gelangte ich auch zum Meer.
Letzteres war, wie sich herausstellte, die Stätte meiner Kindheit, denn ich kehrte binnen weniger Monate Alleinsein auf den Straßen sichtlich angeschlagen nach Hause zurück. Mutter weinte und empfing mich mit offenen Armen, bevor sie in die Küche eilte und mir eine warme Mahlzeit zubereitete. Vaters Schweigen hingegen war geradezu ohrenbetäubend. Er beäugte mich bloß und war nach wie vor trotz der Schwäche, die ihn seit Kyles Ableben heimsuchte, eine
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