Die Trolle
über den dunklen Forst. Viele Geschichten, die man sich nachts an den Feuern erzählte, waren natürlich Ammenmärchen, aber unter all dem Aberglauben verbarg sich auch ein Körnchen Wahrheit. Es gab gute Gründe, den Wald zu meiden, und je tiefer man sich hineinwagte, desto gefährlicher wurde es. In den lichtlosen Tiefen schlichen Kreaturen durch das Unterholz, denen man besser aus dem Weg ging. Wölfe und Bären, die den Städtern und Bauern solche Angst einjagten, wirkten gegen diese geradezu harmlos. Schlimmere Dinge als Tiere, die ohnehin die Nähe der Menschen eher mieden, bedrohten den Wanderer im Herzen des Forstes. Und in der Nacht kamen diese Kreaturen aus ihren Löchern gekrochen auf der Suche nach Opfern und Beute.
Die spitzohrigen Vînai waren gnadenlose Jäger, die Mensch und Tier aus bloßer Freude am Töten mit ihren zielsicheren Pfeilen spickten. Sie duldeten keinerlei Eindringen in ihre Länder im Herzen des Waldes. Neben ihnen gab es die verfluchten Zraikas, die in eine fremde Gestalt schlüpfen konnten und mit ihren tödlichen Reißzähnen und Klauen kaum zu besiegen waren. Von anderen dämonischen Kreaturen hatte Sten nur gehört, doch auch in den geflüsterten Geschichten mochte durchaus ein Körnchen Wahrheit stecken. Vermutlich würde er es schon bald herausfinden. Er lachte freudlos, als er daran dachte, dass diese Bekanntschaft wohl eine kurze und äußerst unerfreuliche werden würde.
Inzwischen war die Sonne gänzlich hinter den Bergen verschwunden und beleuchtete nur mehr die niedrig hängenden Wolken am Himmel. Zusammen mit dem letzten Licht der Sonne schwand auch Stens letzte Hoffnung auf Rettung. Wenige würden es wagen, nachts in die Wälder einzudringen, selbst wenn sie denn überhaupt wüssten, dass Sten noch lebte.
Immerhin ist es hier ein wenig gemütlicher als in Zorpads Kerkern, dachte Sten grimmig und versuchte eine bequemere Sitzposition zu finden, doch irgendwie schien er überall blaue Flecken zu haben. Vielleicht finde ich heute Nacht ja sogar etwas Schlaf, immerhin prügeln seine Häscher nicht mehr auf mich ein.
Aber an Schlaf war kaum zu denken, auch wenn Sten von den Entbehrungen der letzten Tage und den Verhören stark erschöpft war, denn zu unbequem war sein luftiges Gefängnis. Dazu kreisten seine Gedanken unablässig um seine Freunde und die Gefahren, die ihnen drohten.
Mit der Dunkelheit drangen mehr und mehr fremdartige Geräusche an seine Ohren, Tiere schrien, das Laub raschelte, und immer wieder erhaschte Sten aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Die einsetzende Dunkelheit verwandelte den Wald, die Bäume erhoben sich als dunkle Schatten, und zwischen ihnen herrschte schon bald Finsternis, die alle möglichen Schrecken verbergen mochte. Zunächst schien noch der Mond, doch dann türmten sich dunkle Wolken am Himmel auf. Bald schon konnte der Wlachake nur noch wenige Schritt weit sehen, was das nächtliche Spektakel der Waldtiere noch unheimlicher machte. Aber schließlich gewann die Erschöpfung Oberhand, und Sten verfiel in düstere Träume, die von einem Unwetter beendet wurden.
Eiskalter Regen weckte ihn, und der grollende Donner ließ ihn zusammenzucken. Kalte Winde zerrten an seinem Leinenhemd und trieben den Regen fast waagerecht vor sich her. Innerhalb weniger Augenblicke war Sten vollkommen durchnässt und fror erbärmlich.
Immer wieder schlugen Blitze in der Ferne ein, erhellten die Landschaft für einige Augenblicke, gefolgt von mächtigen Donnerschlägen. Sten konnte sich nicht erinnern, jemals einen solch wütenden Sturm erlebt zu haben. Vielleicht lag es aber auch nur an seiner unbequemen Warte, die ihn dem Zorn der Elemente schutzlos auslieferte. Der schwere Eisenkäfig schaukelte im Wind, der Ast knarrte bedrohlich, und es kam Sten so vor, als werde er sogleich zu Boden stürzen. Doch die starke Eiche hielt und würde wohl zur letzten Ruhestätte für Sten cal Dabrân werden.
Mutlos kauerte er sich zusammen und schlang die Arme um den Oberkörper, um sich ein wenig zu wärmen. Vielleicht würde er schon in dieser Nacht erfrieren, denn zu dem Regen gesellten sich jetzt auch noch eisige Hagelkörner, die ihn schmerzhaft trafen.
Niemals seine Heimat wiedersehen, seine Familie, seine Freunde … Verzweiflung überkam ihn und raubte ihm die letzte Kraft aus den müden Gliedern. So saß er da, während das Unwetter um ihn herum tobte. Er musste an Flores’ warnende Worte bei ihrem letzten Treffen denken, die er so leichtfertig in den Wind
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