Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
mitten in der Nacht wieder einmal sturzbetrunken in seiner Studentenbude gelandet waren. Hicks sah aus wie Gevatter Hein mit Elvis-Koteletten und hatte das ganze Zimmer mit Reproduktionen alter Stiche und Gemälde dekoriert - allesamt von ihm höchstpersönlich übermalt. Übermalen war in diesem Zusammenhang jedoch noch ein gnädiger Ausdruck, weil die ehrwürdigen Werke einfach nur mit konfusen Kritzelexplosionen verunstaltet waren. Hicks, der sogar im Vollrausch durch erstaunliche Sprachgewalt glänzte, vertrat die Ansicht, daß er mit seiner Übermalerei das Wesentliche der Werke hervorheben, mit ihnen quasi eine Einheit bilden und sie überhaupt verbessern würde. Die Antwort auf die Frage, weshalb er nicht einfach seine eigenen Gemälde übermale, blieb er schuldig. Aber vermutlich erhoffte er, durch das Beschmieren von Mona Lisas Gesicht mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen, als ihm dies bei den grottenschlechten Bildern eines unbekannten Malers gelungen wäre, wie er einer war.
Damals hatte Seichtem etwas am Verstand seines Freundes gezweifelt, seine Übermalungsphilosophie für einen Witz gehalten. Um so heftiger fiel er aus allen Wolken, als er fünfzehn Jahre später in einer Kunstzeitschrift las, daß der gute alte Hicks mit seiner Übermalungsmasche inzwischen zum Shootingstar in den USA avanciert war, daß seine Bilderschändungen Hunderttausende von Dollar erzielten, ja daß sie sogar in das Guggenheim-Museum in New York Einzug gehalten hatten. Für das, wovon er Ali in jener Nacht nicht hatte überzeugen können, waren »echte Kunstkenner« anscheinend sehr empfänglich gewesen. Seichtem hatte später eine Wanderausstellung von ihm besucht und nicht schlecht darüber gestaunt, wie zur Größe von eineinhalb mal drei Metern aufgeblasener Blödsinn enorm an Bedeutsamkeit gewann, sobald er an steril weißen Wänden eines riesigen Raumes hing. In der Tat, sogar dem soeben produzierten Kackhaufen verlieh das Ambiente eines Museums einen heiligen Ernst, an dem selbst der kritischste Geist nicht zu zweifeln wagte. Ein Einfall übrigens, der von vielen Ungegenständlichen dankbar aufgenommen worden war.
Das war typisch für Ali. Er hatte nie die Zeichen der Zeit erkannt.
Aber das war es in Wahrheit nicht, oder? gestand sich Seichtem ein, als er wie auf schwerer See wankend spürte, daß er sich in Kürze würde übergeben müssen. Die rechts von ihm verlaufende Altbauzeile erschien ihm wie ein Gummiband, das von unsichtbarer Hand geschwungen wurde. In seinem Magen, in seinen ganzen Eingeweiden schienen finstere Mächte zu rumoren, und bald würde die nächtliche Sünde wie schmutzige Lava aus seiner Kehle hervorschießen. Außerdem war es immer noch nicht hell geworden, und auch in Alis Gedanken wollte sich kein Hoffnungsschimmer zeigen.
Seichtem fühlte sich krank und elend, aber sein Verstand funktionierte weiterhin tadellos. Deshalb erkannte er, daß die perfektionierte Scharlatanerie, zu der mittlerweile die gesamte Kunstszene verkommen war, nur unwesentlich an seinem eigenen Scheitern schuld war. Nein, der wahre Grund lag tiefer. Viel, viel tiefer, dort, wo ein Schild mit der Aufschrift »Unlösbares Problem« jedes Weiterkommen verhinderte. Das unlösbare Problem bestand darin, daß er nie gewußt hatte, ob er wirklich ein Künstler war. Heutzutage behauptete jeder Künstler und Nichtskönner, ein Künstler zu sein. Diese Leute hatten es gut. Sie zweifelten nicht an sich. Sie posaunten ihr Selbstverständnis mit solcher Inbrunst und Lautstärke in die Welt, als besäßen sie eine Expertise von Gott. Vielleicht war so was genetisch bedingt.
An Seichtem dagegen nagte immer der Zweifel. Und das hatte zur Folge, daß er sich nie wie ein Künstler fühlte und ergo auch nicht wie ein solcher lebte. Als er noch erfolglos war, hatte er vor Ehrgeiz gebrannt, allen zu beweisen, was für ein Genie er war. Als er dann schließlich Erfolg hatte, hatte er auf jedes noch so kleine Leuchten in den Augen seines Gegenübers geachtet, das ihm seinen Status als großer Künstler hätte bestätigen können. Nun, da er pleite war und seine Werke nichts mehr galten, zog er sich nur zu gern in die mollig warme Höhle des verkannten Meisters zurück.
Da war nichts Ruhendes in ihm, kein stilles, geduldiges Selbstvertrauen, kein souveränes Rotweinfeeling und keine dramatischen Schicksalswendungen, wie sie in den Lebensläufen der ganz Großen üblich w aren, nichts, was diese
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