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Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Titel: Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Akif Pirincci
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Portemonnaie Platz fand - Scheine, Scheinchen, das letzte Geld, das er noch besaß.
    Seichtem überlegte kurz, ob das Geld im Portemonnaie noch reichen würde, um die Wodkas zu bezahlen. Das würde es sicherlich tun. Denn bei Sorgensäufern, wie er inzwischen einer geworden war, funktionierte das Hirn, was das Finanzmanagement für die tägliche Alkoholration betraf, selbst nach dem siebzehnten oder achtzehnten Wodka noch phänomenal. Er traf am Tage stets penible Vorsorge für den allabendlichen Suff. Aber was dann? Die Miete für das Fünfzehnquadratmeterzimmer in einer heruntergekommenen Mietskaserne am Stadtrand, die so aussah und auch so roch, als würden vorbeiziehende Riesen regelmäßig darauf urinieren, konnte er nicht mehr aufbringen. Spätestens in einem halben Monat würde diese bittere Wahrheit ans Tageslicht kommen. Nämlich dann, wenn der Vermieter, ein vor Bluthochdruck rotangelaufener Sechzigjähriger, der mehr aggressive Gier ausstrahlte als so manch achtzehnjähriger Schwerkrimineller, in seinem Kontoauszug Seichtems Namen und die zu diesem Namen gehörige Zahl vermissen würde. Gewiß, er konnte die Sache aufschieben. Ausreden erfinden, sich totstellen, die Schlupflöcher des Mietgesetzes ausnutzen. Es würde dann mit Sicherheit noch über ein Jahr dauern, bis man ihn aus diesem Drecksloch vertreiben konnte.
    Würde er in einem Jahr noch leben? Er hatte ja schon jetzt kein Verlangen mehr danach. So gesehen brauchte er sich über den akuten Geldmangel auch keine Sorgen zu machen. Also doch etwas Positives! Aber was ist, wenn er sich nicht traute, wenn er in Wahrheit nur ein Selbstmitleidstheater veranstaltete, wenn er mit diesen Selbstmordgedanken nur spielte, um sich noch ein Weilchen die Illusion eines schnellen und schmerzlosen Abgangs zu erhalten? Schmerzlos? Wer sagte denn, daß es ohne Schmerzen ablaufen würde? Gemeinhin erwartete man vom Tod doch eher das Gegenteil. Und man mußte schon ein ziemlich cleverer Selbstmörder sein, um seinen Abgang ohne jedes Leiden zu gestalten. Das war Ali nicht. Nach all den Ereignissen der letzten Zeit, nach der Implosion seines Lebens, nach dem Verlust von allem, was ihm je lieb und teuer gewesen war, nach dem Bankrott und den deprimierenden Folgeerscheinungen nun also auch das: Schmerzen!
    Wie hat es nur dazu kommen können? fragte sich der schöne Ali zum tausendsten Mal, aber auch diesmal ohne eine einleuchtende Antwort zu finden. Wie konnte das nur geschehen? murmelte er in seine wie zum Wasserschöpfen gekrümmten Hände, als zwischen diese der letzte Wodka geschoben wurde.
    »Machen Sie schnell. In fünf Minuten schließe ich ab«, mahnte der Barkeeper in einer Mischung aus angeekeltem Mitleid mit dem obligatorischen letzten Säufer und dem Aufatmen über den bevorstehenden Feierabend.
    Seichtem setzte das Glas an die Lippen und versuchte dabei verzweifelt an etwas Schönes, an etwas Wärmendes zu denken, um gegen die graue Kälte gewappnet zu sein, die draußen auf ihn lauerte wie ein wahnsinniger Horrorchirurg. Er fand eine Erinnerung, und es wurde ihm prompt warm ums Herz.
    Er sah die ausgetretene Holzstufe in der ehemaligen Küche so klar und deutlich vor sich, als wäre sie direkt in seinen Kopf projiziert. Die eine Stufe unter der zum Garten führenden Glastüre, die als Schwelle diente. Sie war höher als eine gewöhnliche Stufe, und Ali hatte immer darauf gesessen und eine Zigarette geraucht, wenn er eine kurze Entspannung brauchte oder auf das Essen wartete. Jetzt saß er wieder da, im Erinnerungsland, rauchte, und die Strahlen der Oktobersonne, die durch die Scheibe drangen, wärmten ihm den Rücken, tauchten den ganzen Ort in perfekte Harmonie. Und dann stand plötzlich er im Raum. Mit tapsigen Schritten kam er auf ihn zu, ein Lächeln im Gesicht, das zwischen staunender Freude über den Faxen machenden Papa und maßloser Verblüffung über das eigene erwachende Bewußtsein pendelte, und - so klein, so klein. Der Anblick dieser Erscheinung, halb niedlicher Troll, halb das unbeschwerte Kind, das er einst selbst gewesen war, wirkte auf Ali wie eine Glücksdroge und ließ ihn, den Atheisten, inbrünstige Dankesgebete an Gott senden.
    Aber es war die falsche Erinnerung, jene, die er auf keinen Fall zulassen durfte, niemals, weil dann ...
    Seichtem sah sich im Spiegel über der Schnapsauslage. Er fand, daß er nun gar nicht mehr so blendend aussah. Tränenbäche hatten das Gesicht in das eines Grippeopfers verwandelt, aufgedunsen und rot

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