Die Tuerme des Februar - Phantastischer Roman
du, kennst du mich auch nicht?«
»Das ist doch völlig unmöglich! Wer sind Sie denn? Wohnen Sie in den Türmen?«
»Nein, in den Türmen wohnt überhaupt niemand. Es gibt eine Unmenge Zimmer da drinnen; man kann sie über die Galerien erreichen. Diese Galerien sind durch Treppen miteinander verbunden … Hast du denn noch nie davon gehört?«
»Ich habe so ein Gefühl, als ob ich eigentlich mehr darüber wissen müsste – aber ich kann mich nicht daran erinnern …«
Er seufzte. »Hunderte von Zimmern, aber sie stehen alle leer. Kein Mensch wohnt in den Türmen; sie sind einfach nur eine Sehenswürdigkeit.«
»Und weshalb?«
»Das ist eine Frage, die du dir sparen kannst – du hast sie doch eben selbst sehenswert gefunden! Die Leute kommen von überall her, um sie zu besichtigen. Weil sie so außergewöhnlich sind. Aber sie dürfen nicht alleine hinein: Der Turmwächter veranstaltet Führungen. Und dieser Turmwächter, das bin ich.«
»Wohnen Sie hier? In dieser Hütte?«
Er schaute umher und nickte.
Ich fragte ihn noch weiter über die Türme aus, aber sehr viel schien er nicht zu wissen. Oder wich er meinen Fragen aus? Er gab mir auf alles nur sehr spärliche Antworten; er sagte, dass ich mich dann umso eher selbst erinnern würde. Trotzdem ist er bereit, mir die Türme zu zeigen – gleich wenn die Matrosen weg sind. Vielleicht erfahre ich dann mehr.
Jetzt will ich aber zuerst den Bericht von gestern zu Ende schreiben; wenn Herr Avla zurückkommt, möchte ich damit fertig sein.
Ich saß hier auf dem Bett und erzählte ihm alles. Ich zeigte ihm auch dieses Büchlein, mit den beschriebenen Blättern hintendrin, und ich fragte ihn, was das Wort MOIXA bedeutet. Er wusste es nicht. Doch nach dem Essen sagte er: »Warum solltest du dieses Buch nicht benutzen? Die meisten Blätter sind noch leer. Schreib auf, was du erlebt hast. Das wenigstens kannst du dann nicht mehr vergessen. Und möglicherweise tauchen dann auch andere Erinnerungen wieder auf. Das eine bringt das andere mit sich.«
»Ich weiß ja nicht mal, ob ich schreiben kann!«
»Selbstverständlich kannst du das. Mit dem Schreiben ist es wie mit dem Schwimmen; das verlernt man nie. Versuch es – es gibt keine bessere Methode, um die Gedanken zu ordnen.« Wieder schaute er mich lange an, der alte Turmwächter. »Vielleicht kann ich dir helfen, wenn ich deine Geschichte gelesen habe.«
Falls ich es überhaupt selber lesen kann, dachte ich. Aber ich holte doch meinen Stift aus der Hosentasche und schlug das Büchlein auf. Er sagte: »Schreib alles auf. Alles. Von Anfang an.«
Und so habe ich es getan.
Übrigens schreibt er selbst auch. Letzte Nacht schlief ich im Schlafsack auf der Erde und er wollte im Bett schlafen. Das tat er aber dann doch nicht. Ab und zu wurde ich wach; beim ersten Mal war mir sehr warm und ich schnappte nach Luft, doch dann sah ich ihn glücklicherweise. Er saß am Tisch unter der Lampe und schrieb.
Jedes Mal, wenn ich erwachte, saß er dort; manchmal schrieb er, manchmal las er. Einmal hatte er auch mein Büchlein zur Hand genommen. »Ich lese, was du geschrieben hast«, sagte er zu mir.
»Stimmt nicht«, flüsterte ich, »Sie haben hintendrin gelesen.«
»Ja – natürlich werfe ich auch einen Blick auf die letzten Seiten. Ich versuche, deine Rätsel zu lösen.«
Ich schlief wieder ein, aber bis heute Morgen hatte Herr Avla nicht ein einziges Rätsel gelöst. Er saß noch immer am Tisch und sah sehr müde aus. Er betrachtete sich in einem Spiegel und zog Grimassen. Als er merkte, dass ich ihn beobachtete, legte er schnell den Spiegel und alle seine Papiere in die Kiste zurück und schloss sie ab. Kurz darauf entdeckten wir, dass er auch mein Tagebuch eingeschlossen hatte. Er gab es mir sofort zurück; aber es gefällt mir trotzdem nicht, dass er alles lesen will, was ich schreibe. Schließlich ist es mein Tagebuch (außer den letzten 24 Seiten natürlich).
Ich bat ihn, ob ich einmal in seinen Spiegel schauen dürfe.
»Warum?«, fragte er. (Er hatte die Kiste gerade wieder abgeschlossen.)
»Ich möchte wissen, ob ich mich selbst erkenne.«
»Im Spiegel sieht man sich nur so, wie einen die anderen sehen. Und um dich zu erkennen, brauchst du ihn bestimmt nicht. Oder bist du so eitel?«
Aber nach einer Weile gab er mir den Spiegel dann doch. Es war deprimierend, hineinzuschauen; ich erkannte mich überhaupt nicht! Je länger ich mich ansah, desto fremder wurde mir mein Spiegelbild. Da schaute ich mir lieber das
Weitere Kostenlose Bücher