Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tulpe des Bösen

Die Tulpe des Bösen

Titel: Die Tulpe des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kastner
Vom Netzwerk:
der tiefsten Nacht. Rauhe Seemannskehlen, gewiß nicht zum Singen geschaffen, grölten unanständige Sauflieder. Musikanten spielten auf und ließen ihre Rohrflöten, Lauten und Drehorgeln um die Wette zetern. Frauen lachten, viel zu laut und viel zu schrill. Alles schien zu singen, zu fiedeln, zu schreien, zu lachen, selbst die Wände. In Jeremias Katoens Vorstellung war das Labyrinth ein lebendiges Wesen, ein Tier von gigantischen Ausmaßen, das atmete, das fraß, das soff, das nie zur Ruhe kam. Es ernährte sich von jenen, die hier nach geistloser Zerstreuung und billigem Vergnügen suchten, saugte sie mit ihren kleinen Sehnsüchten und nichtigen Begehrlichkeiten in sich auf und spie sie als ausgelaugte Hüllen seelenlosen Fleisches wieder aus.
    »Ich glaube, da kommen sie«, sagte Jan Dekkert, der durch das winzige Fenster nach draußen spähte, auf die düsteren Gassen des Labyrinths.
    Das Labyrinth – so nannten sie das unübersichtliche Gewirr enger, verwinkelter Gassen am Hafen, wo sich Spelunke an Spelunke reihte und ein ehrbarer Bürger binnen einer Nacht sein Geld, seine Ehre und leicht auch sein Leben verlieren konnte. Hier war ein Menschenleben nicht mehr wert als einige Stüber, ein paar Becher Bier oder einen Krug Anisschnaps.
    Katoen schob Dekkert sanft beiseite und blickte selbst nach draußen. Drei Personen näherten sich dem Haus, zwei Männer und eine Frau. Die Frau hatte sich bei einem der Männer eingehängt, flötete ihm etwas ins Ohr und strich mit der freien Hand über seinen Unterleib. Vergeblich bemühte sich Katoen, die Gesichter der drei zu erkennen.
    Seit dem vergangenen Jahr gab es Straßenlaternen in Amsterdam, fast zweitausend an der Zahl, aber hier, am Rande der Stadt, herrschte weiterhin die altbekannte Finsternis. Es schien, als sträube das Labyrinth sich gegen jede Veränderung, als zöge es seine schmalen Gassen noch enger zusammen, damit kein unerwünschter Lichtschein auf das allnächtliche wüste Treiben fiel.
    Auf der anderen Seite der Gasse befand sich ein Musico, ein Musiklokal namens Der Goldene Hahn, aus dem die leiernde Melodie einer überbeanspruchten Drehorgel herübertönte. Der helle Schein, der durch die großen Fenster des Lokals nach draußen fiel, beleuchtete für einen Augenblick auch die drei späten Fußgänger. Die Frau war etwas zu massig, etwas zu alt, und ihr Gesicht war etwas zu aufgedunsen, als daß ein Mann mit klarem Verstand an ihr hätte Gefallen finden können. Aber ihr Begleiter war nicht bei klarem Verstand, das zeigte sein schwankender Schritt. Er hatte genug intus, um auch die häßlichste Nachtläuferin noch schön zu finden. Seine saubere, ordentliche Kleidung verriet, daß er nicht in dieses Viertel gehörte. Ein ehrbarer Handwerker oder Kaufmann, den der Wunsch nach etwas Ablenkung vom harten Tagewerk hierher getrieben hatte. Gewiß hatte der andere Mann ihm die Erfüllung seines Wunsches in Aussicht gestellt. Er war sehr groß und kräftig – und ganz Herr seiner Sinne. Das breite, knochige Gesicht wirkte angespannt, obwohl er den Betrunkenen anlächelte und ihm irgendeinen Scherz zurief, der für Katoen jedoch im leiernden Singsang der Drehorgel unterging.
    Katoen wandte sich seinem Gehilfen zu, der ihn erwartungsvoll ansah. »Sie sind es tatsächlich, Jaepke Dircks und die Dicke Dela. Mit einem Fisch an der Angel, der offenbar mit Freuden angebissen hat.«
    »Ja, ganz freiwillig«, sagte Dekkert. »Eigentlich ist es ungerecht, daß wir uns wegen ein paar vergnügungssüchtiger Saufbrüder die Nacht um die Ohren schlagen.«
    »Vergnügungssucht ist kein Verbrechen, jedenfalls nicht vor dem weltlichen Gesetz, Diebstahl dagegen schon. Und da einer der Geprellten ein guter Freund des Amtsrichters ist, wie van der Zyl mir zu verstehen gegeben hat, sollten wir dem Treiben ein Ende bereiten, wenn wir nachts wieder in Frieden schlafen wollen.«
    Insgesamt vier Männer hatten sich bei den Behörden darüber beschwert, daß ihnen ihr sämtliches Geld gefehlt habe, als sie dieses Haus nach ein paar vergnüglichen Stunden, wie einer von ihnen es genannt hatte, verließen. Vermutlich gab es noch mehr Bestohlene, aber so manchen mochten die näheren, so ›vergnüglichen‹ Umstände der Tat davon abhalten, die Sache zur Anzeige zu bringen.
    Katoen hatte kein Mitleid mit ihnen. Erwachsene Männer sollten wissen, worauf sie sich einließen. Wer sich in den brodelnden Strudel des Labyrinths begab, mußte damit rechnen unterzugehen. Aber als einer der

Weitere Kostenlose Bücher