Die Mutter
1. Kapitel
Es gibt Momente, in denen man rundherum zufrieden ist und meint, vom Schicksal begünstigt zu sein. Bei mir war es ein Sonntagnachmittag Ende Mai. Einer von den Tagen zwischen Frühling und Sommer, die fast zu schön sind, um wahr zu sein. Wollte ich ihn beschreiben, es käme nur Kitsch dabei heraus.
Die milde Sonne, die von einem kurzen Regenschauer in der Nacht blank geschrubbten Terrassenfliesen, das frische Grün im Gemüsegarten, den Rasen nicht zu vergessen. Und über allem der sanfte Himmel, nicht blau genug, um unecht zu wirken. Er sah aus wie mit den Resten aus einem Milchtopf übergossen, zarte weiße Schlieren nahmen ihm seine Postkartenanmutung und verliehen ihm Wahrhaftigkeit – uns auch.
Wir saßen auf der Terrasse, die Kuchenteller waren bereits leer, in den Tassen wurde der letzte Schluck Kaffee kalt. Jürgen lehnte sich im Sessel zurück und genoss mit geschlossenen Augen die Sonne. Vater erhob sich und ging in den Garten hinunter, um sich, wie er sagte, die Beine zu vertreten. Dabei wollte er nur seine jungen Pflänzchen bewundern. Kohlrabi, Kopfsalat und das, was einmal Blumenkohl werden sollte. Damit füllte mein Vater auf, was ihm von seinem Leben übrig geblieben war.
Mutter trug den Tortenrest in die Küche, kam zurück und freute sich, dass wir die Kaffeestunde ohne Wespenangriffe überstanden hatten. Sie war ein wenig skeptisch gewesen, den Tisch im Freien zu decken, obwohl Anne ihr mehrfach versichert hatte, dass Wespen erst viel später im Jahr aggressiv wurden.
Anne und ihr Freund Patrick Urban diskutierten eifrig, ob es sich lohnte, für einen bestimmten Film nach Köln zu fahren, obwohl er garantiert in spätestens drei oder vier Wochen auch in «unserem» Kino gespielt wurde. Dann das Hufgetrappel in der Einfahrt. Jürgen öffnete die Augen, grinste und sagte: «Die Hunnen kommen.» Mutter griff eilig nach der Zuckerdose. Damit es nicht gar so auffällig war, nahm sie auch das Sahnekännchen mit in die Küche. Sie verschwand durch die Tür, gerade als Rena hoch zu Ross um die Hausecke bog.
«Dachte ich mir, dass ihr draußen sitzt. Ist noch ein Stück Torte da?» Ihre Augen schweiften über den Tisch, sie stieg ab und sprang mit zwei Sätzen zu uns herauf.
«Musst du das Tier nicht anbinden?», erkundigte sich Mutter durch die offene Küchentür. Das Pferd stand einfach da.
Es war eine Fuchsstute; ein schönes Tier, soweit ich das beurteilen kann. Ich habe nicht viel Ahnung von Pferden, für mich sind sie nur groß. Rena warf der Stute einen Blick über die Schulter zu. «Schön stehen bleiben und nicht den Rasen anfressen. Wenn du brav bist, gibt’s was Feines.»
Sie stürmte in die Küche. Ich hörte Mutters Protest: «Aber doch nicht mit den Fingern.»
Jürgen grinste immer noch. Vater kam aus dem Garten zurück und tätschelte der Stute den Hals. «Du bist ein braves Mädchen, Tanita. Ja, du bist ein braves Mädchen.»
Rena erschien wieder auf der Terrasse, einen Sahneklecks am Kinn, in einer Hand ein angebissenes, zerbröselndes Tortenstück, in der anderen ein paar Zuckerwürfel. Sie hielt der Stute die offene Hand mit den Würfeln hin, stopfte sich den Rest der Torte in den Mund, wischte sich die Hände an der Hose ab, schwang sich kauend in den Sattel und verschwand, wie sie gekommen war. «Bis später, Leute.»
Es gibt Momente, die gaukeln einem vor, man sei unverwundbar. Der Sonntagnachmittag im Mai war so einer. Wenn ich darandenke, kommen mir die Tränen. Ich kann nichts dagegen tun. Wir fühlten uns einfach zu sicher und waren überzeugt, es werde immer so weitergehen.
Es ging uns gut, wir waren eine glückliche Familie. Die Eltern noch bei bester Gesundheit, zwei wohlgeratene Töchter, eine harmonische Ehe, den Traum vom Haus auf dem Land hatten wir uns mit dem Kauf eines alten Bauernhofes auch erfüllt.
Wir sahen und hörten von anderen, denen plötzlich das Leben auseinander gerissen wurde. Ein Unfall, eine tödliche Krankheit, etwas, das meist ohne Vorankündigung über die Betroffenen hereinbrach. Wie der Tod von Susi Rembach. Das geschah an dem Sonntag, als wir auf der Terrasse saßen. Wir erfuhren es am Dienstag. Ein fünf Jahre altes Mädchen – ertrunken im Urlaub am Meer, vor den Augen seiner Mutter.
Entsetzlich, sagten wir, die arme Frau Rembach, wie wird sie das verkraften? Wir kannten sie gut. Sie war Jürgens Patientin. Er hatte sie auch während der Schwangerschaft betreut und wusste, wie sehr sie sich ein Kind gewünscht, wie
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