Horror Factory 10 - Rachegeist
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Als Elizabeth meine Leiche erblickt, bleibt sie wie angewurzelt im Türrahmen stehen.
Sie schnappt erschrocken nach Luft und …
Mehr nicht.
Vermutlich sollte ich enttäuscht sein, dass sie sich nicht umgehend kreischend in Panik und Tränen auflöst.
Aber ehrlich gesagt, bin ich im Moment selbst noch zu sehr damit beschäftigt, mit der ganzen Situation klarzukommen.
Dabei dachte ich, es wäre die einfachste Lösung.
Für mich.
Für Elizabeth.
Für die Mädchen.
Für alle.
Sicherlich ist der Anblick des eigenen Ehemannes, der sich erhängt hat, nicht besonders erfreulich.
Allerdings ist der Schmerz ein anderer als jener, der einem zusetzt, wenn man tatenlos dabei zusehen muss, wie ein geliebter Mensch Stück für Stück von innen zerfressen wird.
Wie er von der Krankheit in sich aufgezehrt wird, bis immer weniger von ihm übrig ist und er sich letztlich vor den Augen seiner Lieben und Freunde ganz auflöst.
Wie ein Geist.
Natürlich hätte ich es niemals für möglich gehalten, dass ich noch mitbekomme, wie es weitergeht.
Dass ich noch einen Kontakt zur Welt hätte, nachdem ich den Stuhl erst einmal zur Seite getreten und mein Schicksal der Gürtelschlaufe und dem Eichenholzbalken unter der hohen Decke meines Arbeitszimmers anvertraut habe.
Doch ich sehe alles.
Das Zimmer, in dem ich die letzten fünfundzwanzig Jahre fast zwei Dutzend Roman-Bestseller geschrieben habe.
Meine Leiche, mit kraftlos herabbaumelnden Gliedern, widerlich vollgesogenen Hosen und tropfenden Schuhen.
Und meine Frau.
Elizabeth.
Von Anfang an meine Muse und Gefährtin.
Die nach wie vor keine Miene verzieht, während sie ausdruckslos meine Leiche betrachtet.
Noch hat sie meinen Abschiedsbrief nicht entdeckt.
Neben dem Brief liegen ein USB-Stick und ein Papierstapel.
Der Ausdruck ist nur zur Sicherheit, falls beim Kopieren des Manuskripts etwas schiefgelaufen sein sollte.
Herz aus Blei.
Mein letzter Roman.
Mein Vermächtnis.
Elizabeth nimmt Brief, Manuskript und USB-Stick jedoch genauso wenig wahr wie mich in meiner jetzigen Form.
Verdammt.
Da ist es schon wieder.
Ich drücke mich davor, mich als Geist zu bezeichnen.
Das hat seine Gründe.
Es wäre zwar ziemlich kompliziert, auseinanderzusetzen, woran ich Zeit meines Lebens wirklich geglaubt habe.
An Geister und Gespenster aber mit Sicherheit nicht.
Womöglich nicht einmal an so etwas wie Seele.
Bin ich überhaupt das, was man gemeinhin unter einem Geist oder einem Gespenst versteht?
Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, dass nach der Panik und der Schwärze plötzlich dieses Gefühl absoluter Schwerelosigkeit kam.
Und dass ich mein Umfeld auf einmal wieder wahrnehmen konnte, wenn auch mit stark veränderten Parametern.
Seither schwebe ich buchstäblich über den Dingen.
Gelegentlich auch durch sie hindurch.
Durch Wände gehen kann ich trotzdem nicht.
Boden.
Decke.
Wände.
Überall pralle ich gegen eine Barriere.
Obwohl ich mich sonst so losgelöst fühle, als hätte ich jedwede Masse und Festigkeit verloren, sind selbst Türen und Fenster ein unüberwindbares Hindernis.
Sogar wenn sie offen stehen.
Deshalb ist es womöglich passender, mich als Gefangenen zu bezeichnen statt als Geist.
Ich würde Elizabeth zu gerne folgen.
Nur, um ihre weiteren Reaktionen zu beobachten.
Der Tod durchtrennt anscheinend keineswegs alle Fesseln.
Schon gar nicht die des Egos.
So kann ich bloß gedankenversunken durch den Raum schweben und mich über all das hier wundern.
Es ist komisch und irritierend zugleich, den Arm oder das Bein auszustrecken und rein gar nichts zu sehen.
Kein Schimmern.
Kein Flimmern.
Spüren kann ich ebenfalls nichts.
Auch nichts berühren.
Schmecken.
Riechen.
Es ist unglaublich befremdlich.
Als wäre man blind, obwohl man sehen kann.
Taub, obwohl man hören kann.
Gelähmt, obwohl man sich bewegen kann.
Mein Zeitgefühl scheint noch etwas zu sein, das ich mitsamt meiner sterblichen Hülle aufgegeben habe.
Denn ich habe keinen blassen Schimmer, wie viel Zeit vergeht, bis sich Schritte meinem Arbeitszimmer nähern.
Elizabeth kehrt zurück.
Noch immer keine Tränen zu sehen.
Sie ist nicht allein.
»Er hat es wirklich getan«, raunt mein Assistent Marc.
Alles in allem wirkt auch er eher gefasst.
Marc gehört praktisch zur Familie.
Vielleicht war er sogar der Sohn, den ich nie hatte.
Im Anschluss an jeden meiner Uni-Vorträge bekam ich Dutzende unangeforderte Bewerbungen von Leuten, die unbedingt mein Assistent werden
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