Die Tunnel der Seele
Ende eines klebrigen Stücks Sehne. Er fragte sich, ob es wohl seine rechte oder seine linke Hand war.
»Du fragst dich vielleicht Sachen, Georgie. Aber eines kann ich dir sagen, da du ja immer alles wissen willst. Es ist der alte Hammerschwinger, der immer den Dreck wegwischt, der beim Grillfest der Republikaner in Raleigh die Hand von Senator Hallifield geschüttelt hat. Ja, diese Finger da haben immer den doppelnähtigen, im Bogen geworfenen Ball gefangen, mit dem du damals im letzten Jahr an der Highschool vierzehn Siege errungen und drei Niederlagen eingesteckt hast. Das sind die Knöchel, mit denen du dem Kiefer des Hippies, mit dem Selma abgehauen ist, einen ordentlichen Schlag verpasst hast. Aber, hey, jetzt ist die Hand nur noch totes Fleisch, Schnee von gestern. Kümmern wir uns lieber um die Körperteile, die noch
dran
sind.«
George wünschte, er könnte seine Füße fühlen. Dann hätte er wenigstens nicht mehr solche Angst, er könnte wie einer dieser Fische auf dem Trockenen enden. Irgendetwas in seinem zerquetschten Bauch krampfte sich zusammen und gluckste. Mit jedem seiner flachen Atemzüge drangen gebrochene Rippenknochen auf der Suche nach noch unversehrten Organen weiter in seine Brust vor. Und wer war schuld an dieser ganzen Misere?
»Ganz allein du, Soldat. Du und deine neugierige Nase. Du musstest ja unbedingt in Angelegenheiten rumschnüffeln, die dich absolut nichts angehen. Nur, damit du auch wirklich gottverdammt noch einmal
Bescheid weißt
, nicht wahr? So warst du schon immer und so wirst du auch immer sein. Aber wenn du nicht bald deinen dicken Hintern bewegst, hat sich das bis zum Sonnenuntergang wohl auch erledigt.«
Natürlich wusste George gern über alles Bescheid. Er wollte wissen, warum Libellen »Schlangenfresser« genannt wurden. Er wollte wissen, warum Selma es in ihrem alten Messingbett mit einem verflohten, liberalen Hippie getrieben hatte. Er wollte wissen, warum dieses Gemälde von Ephram Korban unten im Herrenhaus ihm auf sieben unterschiedliche Arten Angst einjagte. Er wollte wissen, warum diese alte Fledermaus Sylva und sein Kumpel Ransom ihm gesagt hatten, er solle sich von diesem Teil des Waldes fernhalten. Und am meisten wollte er wissen, warum die Frau in Weiß hier in der Hütte getanzt hatte, kurz bevor diese um ihn herum einstürzte.
»Es bringt nichts, über etwas zu grübeln, das du nicht durchschauen wirst«, erklang in der Ferne die Stimme von Old Leatherneck. »Kümmere dich lieber wieder um deine jetzige Situation, wenn du weißt, was ich meine.«
Ein weiterer Tropfen Blut spritzte auf sein Gesicht, diesmal auf sein Kinn. Gerade wollte er ihn abwischen, als ihm wieder einfiel, dass sich genau an diesem Arm keine Hand mehr befand. Ein Schmerz so hell und gelblich rot wie Napalm brannte in seiner Schulter.
George spähte durch das Chaos aus zerborstenem Holz, das sich über ihm befand. Durch die Trümmer drangen einige wenige gedämpfte Lichtstrahlen, Staub wirbelte langsam in der Luft herum. Das bedeutete, dass der Tag noch nicht erloschen war. Irgendwie schien sich die Zeit auf merkwürdige Art auszudehnen, wie in Vietnam, wenn die Landser in Deckung gingen, noch bevor die ersten Granatwerfer durch die Luft pfiffen.
»Hey, Georgie, eines musst du mir schon zugute halten. Ich hab dich aus dieser Scheiße rausgeholt, nicht wahr? Also schreib mich mal noch nicht ab. Aber ich brauche ein bisschen Hilfe. Du musst dir ein kleines verdammtes Fünkchen
Hoffnung
bewahren.«
Hoffnung. Die Hoffnung hat dafür gesorgt, dass du früh aufgestanden bist. Die Hoffnung hat dich abends ins Bett gebracht und dich fürsorglich zugedeckt. Die Hoffnung war die letzte Sache, an die du dich geklammert hast, als alles andere verloren war. Dieser Gedanke jagte George eine Gänsehaut über den Rücken. Oder lag das einfach nur an dem kalten Schweiß, der sein Gesicht überzog?
»Ich halte durch«, flüsterte George. Für gewöhnlich gab er Old Leatherneck keine Antwort. Er dachte, dass sich nur Verrückte tatsächlich mit den Stimmen in ihrem Kopf unterhielten. Aber wenn man es genau nahm, gab es auf Korban Manor sehr viele Verrückte. Ransom Streater behauptete, er sähe Menschen, wo sich keine befanden oder die schon vor langer Zeit verstorben waren. George wünschte sich, dass einer von ihnen jetzt eine Vision hätte und ihn sehen könnte, wie er hier unter der alten Hütte gefangen lag. So wie Abigail mit ihren hellseherischen Fähigkeiten.
Doch Korban Manor lag mehr
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