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Die Tunnel der Seele

Die Tunnel der Seele

Titel: Die Tunnel der Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Nicholson
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Balken knarrte leise und bewegte sich Zentimeter für Zentimeter nach oben. Die festgenagelten Nerven in seinem Oberarm erwachten zum Leben.
    »Er bewegt sich, Soldat! Er bewegt sich! Und der Schmerz ist doch belanglos, oder? Zur Hölle, wir haben schon Schlimmeres durchgemacht. Das hier ist doch etwas für Weicheier, ein Walzer über eine Gänseblümchenwiese.«
    Ein Walzer. Dieser lange weiße Schatten hatte einen Walzer getanzt. Wie ein abgenutzter Leinenvorhang, der im Wind wehte, bis auf dass—
    »Auf jeden Fall war es nicht das Gesicht eines Käuzchens, Georgie-Boy.«
    Der Schatten hatte ein menschliches Gesicht gehabt.
    George gluckste und die Spucke lief seine Wange hinunter. Wieder stemmte er den Balken und tatsächlich bewegte er sich einen weiteren grausamen und wertvollen Zentimeter nach oben. Neue Farben des Schmerzes durchfuhren ihn, eitriges Gelb, elektrisches Grün, grelles Violett, rasende Fetzen höllischer Qualen. Das Dach wurde in seinen Grundfesten erschüttert und die amputierte Hand befreite sich von ihrem Holzspieß, fiel hinunter und prallte an seiner Stirn ab.
    Doch George bemerkte es kaum, weil er sich wieder im Tunnel befand und die dunklen Schienen des Stollens entlang fuhr. Gerade umrundete er die lang gezogene Kurve, die hinein in die Dunkelheit führte, diese letzte Windung, die ihn von der Plackerei des Atmens befreien würde.
    Und plötzlich wusste er, was ihn hinter der Kurve erwartete.
    Sie
würde dort warten, der weiße Schatten mit den großen, runden, flehenden Augen. Das Ding mit den weit geöffneten Armen und einem verwelkten Blumenstrauß in der Hand. Sie sah sogar noch verängstigter aus als George. Kurz bevor die Hütte zusammenstürzte, hatte er den langen, durchsichtigen Schwanz gesehen, der sich unter dem Spitzensaum ihres Gewands gekringelt hatte. Ein Schwanz so schuppig wie eine—
    »Schlangen kriechen im Dunkeln, Georgie.«
    »Nein, das tun sie nicht«, sagte George mit heiserer, schwacher Stimme. »Ich weiß es, weil ich es nachgeschlagen habe.«
    Er weinte, weil ihm bewusst wurde, dass er sich nicht mehr an den Namen seiner Mutter erinnern konnte. Doch Trauer spielte jetzt keine Rolle, genauso wenig wie der Schmerz oder die Nägel in seinem Fleisch oder die fehlende Hand oder der Staub in seiner Lunge oder das Kriechen in der Nacht. Selbst Old Leatherneck hatte keine Bedeutung mehr. Er war nur noch ein weit entfernter Geist aus dem Dschungel, ein Spinnennetz, ein Echo.
    Das einzige, was nun noch eine Rolle spielte, waren die Schienen durch den Stollen und die Biegung der Kurve, und der Tunnel, der in ein noch tieferes, luftleeres Schwarz führte. Ein Schwarz, das weit über die Farben des Schmerzes hinausging.
    Sie wartete. Und sie war nicht allein.
    Johnny Cash hatte recht, das Lexikon lag falsch.
    Schlangen krochen
doch
des Nachts.

6. KAPITEL
    W ie eine goldgrüne Decke erstreckten sich die Felder bis hin zu den umliegenden Wäldern. Vor dem Horizont hoben sich malerische Bergkämme ab, die vom Meister aller Bildhauer mit jahrtausendelanger Geduld gemeißelt, gehobelt und geschliffen worden waren: der Zeit. Jetzt war Mason klar, warum dieses Gebirge den Namen Blue Ridge, der blaue Gebirgskamm, trug, auch wenn die Blätter, die nun im Herbst die Farbe wechselten, in solch vielfältigen Facetten erstrahlten, dass er sich beinahe wünschte, er wäre doch bei der Malerei geblieben.
    Kürbisorange, zucchinigelb, maisbartgold, rübenviolett. Van Gogh hätte sein anderes Ohr dafür gegeben, um diesen Ort malen zu können.
    Dieser Gedanke hatte natürlich den faden Beigeschmack des so gefürchteten Ideals der künstlerischen Aufopferung. Mason fragte sich, ob die Mehrheit der hochgeschätzten, aber geistesgestörten Künstler vergangener Epochen vielleicht gar nicht schizophren oder durch das Blei in ihrer Farbe vernebelt gewesen war, sondern einfach nur von den flüsternden Stimmen fordernder Musen in den Wahnsinn getrieben wurde.
    Er verdrängte den Gedanken aus seinem Kopf, weil augenscheinlich nur ein Verrückter ihn in Erwägung ziehen konnte. Und er hatte das Malen nicht aufgegeben, weil es ihm an Lust oder Talent gemangelt hätte, sondern weil man Bilder nur anschauen konnte. Skulpturen konnte seine Mutter mit den Fingern fühlen, ein Gemälde hingegen war für sie nichts anderes als ein weiteres Stück endlose Finsternis.
    Ein paar Pferde und Kühe grasten auf der Wiese, die vom Haus aus leicht nach unten abfiel. Das Freiland musste eine Fläche von etwa

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