Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Überlebenden der Kerry Dancer

Die Überlebenden der Kerry Dancer

Titel: Die Überlebenden der Kerry Dancer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alistair MacLean
Vom Netzwerk:
Noch ehe der kommende Tag endete, würde jeder einzelne Mann auf der Insel tot, verwundet oder ein Gefangener sein. Doch Befehl war Befehl, und so trottete Korporal Fraser entschlossen los, hinunter zur Kalang-Bucht.
    Dann und wann, wenn die Straße für eine Strecke frei von Trümmern war, trat er zur Seite und ließ seine Männer langsam an sich vorbeimarschieren. Es schien zweifelhaft, ob einer dieser Männer ihn auch nur wahrnahm, sei es einer der Schwerverwundeten oder Schwerkranken auf den Tragbahren oder einer der zwar noch marschfähigen, aber doch gleichfalls kranken und verwundeten Männer, die diese Tragbahren trugen. Und jedesmal mußte Korporal Fraser dann auf einen Nachzügler warten, einen großen mageren Jungen, dessen Kopf unsicher auf seinen Schultern schwankte, während er ununterbrochen mit stockender Stimme vor sich hinmurmelte. Dieser junge Soldat litt weder an Malaria noch Ruhr noch war er irgendwie verwundet, und doch war er der krankste von allen. Fraser ergriff ihn jedesmal am Arm und trieb ihn zur Eile an, damit er nicht hinter dem Haufen zurückblieb; und der Junge beschleunigte auch seinen Schritt, ohne zu protestieren. Er sah Korporal Fraser nur gleichgültig an, mit einem leeren Blick, der nichts mehr wahrzunehmen schien; und Fraser musterte ihn dann jedesmal unschlüssig, schüttelte den Kopf und eilte wieder nach vorn, bis er die Spitze der Kolonne erreicht hatte.
    In einem krummen, raucherfüllten Gäßchen weinte in der Dunkelheit ein kleiner Junge. Er war noch sehr klein, vielleicht zweieinhalb Jahre alt. Er war blauäugig und blond, und seine helle Haut war ganz verschmiert von Schmutz und Tränen. Er hatte nichts weiter an als ein dünnes Hemd und khakifarbene Trägerhosen, seine Füße waren nackt, und er zitterte unaufhörlich.
    Er weinte und weinte, ein einsames, schmerzliches Klagen in der Nacht, doch niemand hörte es, keiner achtete darauf. Und es hätte auch niemand, der weiter als ein paar Meter entfernt war, dieses Weinen hören können, denn es war sehr leise, ein kurzes, ersticktes Schluchzen, unterbrochen durch lange, zitternde Atemzüge. Von Zeit zu Zeit rieb er sich mit den Knöcheln der kleinen, schmierigen Fäuste über die Augen, wie kleine Kinder es tun, wenn sie müde sind oder weinen; und mit dem Handrücken versuchte er den Schmerz fortzureiben, da der schwarze Rauch ihm dauernd in die tränenüberströmten Augen stieg und brannte.
    Der kleine Junge weinte, weil er sehr, sehr müde war, denn um diese Zeit lag er sonst schon seit Stunden in seinem Bett. Er weinte, weil er hungrig und durstig war und vor Kälte zitterte – auch eine tropische Nacht kann kalt sein. Er weinte, weil er verwirrt war und Angst hatte, weil er nicht wußte, wo sein Zuhause oder wo seine Mutter war – vor vierzehn Tagen war er mit seiner alten Amah, seiner malaiischen Kinderfrau, zu einem Bazar in der Nähe gegangen, und er war zu jung und unerfahren, um zu begreifen, was die zerbombten und ausgebrannten Trümmer bedeuteten, die sie bei ihrer Rückkehr erwartet hatten – und dabei hätten er und seine Mutter am gleichen Abend jenes 29. Januar mit der Wakefield fahren sollen, dem letzten großen Schiff, das aus Singapur auslief … Vor allem aber weinte er, weil er allein war.
    Amah, seine alte Amme, saß halb, halb lag sie neben ihm auf einem Schutthaufen, wie jemand, der in einen tiefen Schlaf gesunken ist. Stundenlang war sie mit ihm durch die dunklen Straßen geirrt und hatte ihn schließlich ein oder zwei Stunden lang auf dem Arm getragen, bis sie ihn dann plötzlich auf die Erde stellte, beide Hände über ihrem Herzen faltete und umsank, wobei sie sagte, sie müsse ausruhen. Seit einer halben Stunde saß sie nun schon dort, völlig regungslos, ihr Kopf war weit hinüber auf die eine Schulter gesunken, und die Lider ihrer weitgeöffneten Augen standen unbeweglich. Ein- oder zweimal hatte sich der Kleine zu ihr gebeugt und sie angefaßt, doch nur ein- oder zweimal; jetzt hielt er sich fern und hatte Angst, wagte nicht, sie anzusehen, da er dunkel ahnte, ohne es zu begreifen, daß das Ausruhen der Alten sehr, sehr lange dauern würde.
    Er hatte Angst davor, wegzugehen, und Angst davor, dazubleiben, und dann warf er durch seine verschränkten Finger noch einmal einen scheuen Blick auf die alte Frau, und plötzlich hatte er noch mehr Angst vor dem Dableiben als vor dem Weggehen. Er lief die Gasse entlang, ohne zu sehen, wohin, er stolperte und fiel über lose Ziegel und Steine,

Weitere Kostenlose Bücher