Die Uhr der Skythen (German Edition)
ihm her. »Willst du noch was frühstücken?«
Er öffnet die Uhr unter dem Tisch und schüttelt den Kopf. Im Zentrum steht noch immer das Sonnenauge, ein Knopf aus Elfenbein oder Perlmutt, mittendrin das stilisierte Auge, dessen überlange Wimpern die Sonnenstrahlen symbolisieren. Er drückt mit dem Finger drauf, aber der Mittelpunkt läßt sich nicht einen Millimeter bewegen.
»Merkwürdig«, sagt er und schließt die Uhr wieder.
Anna schaut ihn noch immer an.
»Merkwürdig«, sagt sie und nimmt einen Schluck Kaffee.
»Was?«
»Das eben.«
Sie setzt den Becher zurück.
»Was war denn?«
»Weiß auch nicht.« Sie reibt sich die Augen. »Habe wohl geträumt. Willst du noch?«
»Was?«
»Frühstücken?«
Plötzlich ist der Hunger zurück, tollt wie ein aus dem Zwinger befreiter Hund in seinem Inneren umher, verrückter als zuvor, Fokko ist einer Antwort nicht mehr fähig, greift sich mit zittrigen Händen das angebissene Brötchen mit Marmelade und beißt hinein, als wäre er drei Wochen in der Wüste gewesen.
Schweigend ißt er nun Brötchen und trinkt Kaffee. Anna geht nach nebenan. Zuletzt hält er noch immer seinen Talisman in der Hand und ihm ist, als hätte sich was verändert, als wäre was in Gang gekommen. Er öffnet die Kapsel und betrachtet sie sehr genau. Nichts bewegt sich. Er horcht, er fühlt: nichts. Er will wissen, ob sich was dreht, begutachtet die Zeichen auf den Scheiben, aber es ist keine Bewegung zu erkennen. Das ist nicht anders als bei einer gewöhnlichen Uhr. Dem Lauf des Minutenzeigers kann man kaum folgen, der Stundenzeiger ist immer angewachsen.
Er muß eine Skizze anfertigen, in der er den jetzigen Stand der Hieroglyphen zueinander dokumentiert. Später kann er dann vergleichen. Er geht nach nebenan. Anna steht mit dem Rücken zu ihm an einem Regal und scheint etwas zu räumen. Er fragt sie nach einem Zettel. Sie gibt keine Antwort, aber ein Block liegt in der Nähe der Kasse, er bedient sich mit einem Blatt und einem Stift, kehrt in den Nebenraum zurück, fertigt eine Skizze des Inneren der Uhr, zeichnet sorgfältig den Stand der Zeichen auf den Scheiben zueinander ab.
»So«, sagt er sich, klappt die Uhr zu und steckt den Zettel ein, »wenn sich etwas bewegt, werde ich es rausfinden.«
Als er den Stift zurücklegt, steht Anna am Fenster und sortiert Zeitungen.
»Danke«, sagt er.
»Wofür?«
»Für den Stift.«
»Ach ja«, sagt sie still und schaut ihn gedankenverloren an, »mir ist komisch heute, hab Angst, das Herz bleibt mir stehen.«
»Das hat bestimmt mit Leo zu tun.«
»Ja, gewiß.«
Ihr Lächeln ist verzagt. Er sollte sie in den Arm nehmen und festhalten, aber er traut sich nicht, muß doch eben lernen loszulassen. Für diesen Atemzug scheint es ihm, als warte Anna auf ein Zauberwort von ihm.
»Ich geh dann mal wieder«, sagt er.
»Wohin?« fragt sie und schaut aus dem Fenster nach dem Wetter.
»Keine Ahnung, erst mal raus und rumlaufen.«
Sie nickt und beugt sich wieder über die Zeitungen. Er nimmt sich einen Kakao aus dem Regal, packt seine Sachen, steckt ein paar Brötchen in eine Tüte, steigt mit Dicks Socken in seine klammen Stiefel und räumt im Nebenraum auf. Anna kommt dazu.
»Laß alles stehen«, sagt sie, »ich mach das schon.«
Er stellt den Margarinebecher auf den Tisch zurück.
»Wie lange mußt du heute?« fragt er.
»Bis zwei. Und Du wieder?«
»Montag.«
Mit einer Hand streicht sie über seinen Parka, als wäre da eine Falte oder ein Fleck, und in ihren Augen steht eine Geschichte geschrieben, die er nicht versteht.
»Mach’s gut, Anna!«
»Du auch, Fokko.«
Die Uhr über der Tür zeigt zehn nach neun. Das versteht er.
Die Stadt liegt in tiefem Schlaf, das erste Licht hat sich schwerflüssig zwischen die Häuser gestohlen, und der Schnee hängt noch immer unentschlossen in der Luft. Fokko ist in einem Bogen den Gertrudenberg hinaufgegangen, über den verwaisten Spielplatz und durch die offene Anlage der Psychiatrie, wo die Patienten in vergitterten Häusern und mit Stacheldraht bewehrten Freiläufen bewahrt werden wie wilde Tiere in einem Zoo, den seit Jahren niemand mehr besucht.
Er ist gern hier. Es ist ein Ort, an dem niemand lügt. Im Sommer sitzt er häufig auf der Mauer in dem kleinen Heckenkarree vor dem ehemaligen Kloster, schaut über die Kleingärten auf die Türme der Stadt, verfolgt die Flugbahnen der Vögel und hört auf die schwimmenden Teller, die in unregelmäßigen Intervallen zusammenstoßen, mit
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