Die Uhr der Skythen (German Edition)
sanftem Klang, als gemahnten sie die Lebenden wie eine ewige Totenglocke an die Unerbittlichkeit der Zeit. Es ist das Kunstwerk einer Osnabrücker Künstlerin, ein Bassin im Schatten der Gertrudenkirche, in das unterhalb der Wasseroberfläche mit Drähten der Grundriß eines verwinkelten Kreuzgangs gebildet ist, und unsichtbare Strömungen treiben zwei Dutzend Porzellanschüsseln bei Tag und bei Nacht immer den selben Weg um sich selbst. Häufig schwimmt ein Teller vollkommen still und für sich, gelegentlich berühren sie sich erregt klingend und schallend in irdischer Ungeduld an den Ecken ihres Tageslaufs, um sich dann wieder distanziert der Kontemplation ihrer ewigen Stundengebete hinzugeben.
Der Schnee hat die Mauer schon ein wenig überstäubt. Von der Stadt dort unten kommt kein einziges Licht zu ihm her, aus einigen Schornsteinen steigen schwerfällig Wolken auf, lösen die Konturen der Kirchtürme und vereinigen sich mit dem verhangenen Himmel. Da unten schläft Eva in das neue Jahr hinein, ohne es zu wissen. Sie hat ihn rausgeschmissen. Sie hat ihn abgestoßen, wie sie es von heute auf morgen mit Dingen macht, die für eine unsichere Frist erklärtermaßen zu ihren Lieblingssachen gehörten, Pullover, Schallplatten oder neulich wieder mal eine Trendsportart und ihr einschlägiges Equipment.
Mit dem Finger zeichnet er ein Herz in den Schnee. Es ist vorbei. Es ist eine Geschichte aus der Vergangenheit, die man jedem erzählen kann, aber sie wird nie wieder wirklich sein, ihre Gegenwart ist verloren, auch wenn er Eva Kaffee, Honig und frischen Toast ans Bett trägt.
Er nimmt den hölzernen Schatz aus der Tasche, klappt ihn auf, holt den Zettel hervor und vergleicht den Stand der Zeichen mit denen auf den Scheiben der Uhr. Er möchte sich einbilden, eine minimale Verschiebung zu erkennen, aber sicher ist er nicht, betrachtet die Hieroglyphen gewissenhaft, bestaunt ihre Schönheit, rätselt über ihr Alter, ihren Sinn, aber es hat sich wohl nichts verändert. Nur daß es plötzlich seltsam still geworden ist. Das ewige Lied der Suppenteller ist verstummt. Entweder haben sie das rechte Maß klösterlicher Distanz gefunden, oder es ist ihnen der Kreuzgang eingefroren.
Einen langen Moment horcht Fokko nach der Stille. Sie ist vollkommen. Doch es ist nicht nur das, es scheint ihn zudem eine absolute Starre zu umfangen, ihm kommt vor, seine spärlichen Bewegungen hätten an Gewicht gewonnen, und mit einem Mal sieht er einen Vogel, der reglos am Himmel über den Kleingärten klebt, eine fliegende Krähe, die auf der Folie der Kirchtürme das Bild einer fliegenden Krähe abgibt. Fassungslos schaut er das an wie ein Traumbild, das im Erwachen eine Weile im Bewußtsein nachglüht und reibt sich die Augen. Es ist das alles ein Traum, von Anfang an, die frühe Stunde mit Anna, die Nacht im Container auf jeden Fall, und vor allem das Ende seiner Beziehung mit Eva. So wird es sein. Er hat zu heftig in das neue Jahr gefeiert, liegt noch in schweren, völlig realistischen Träumen, und bald wird ihn der Geruch von Kaffee und frischem Toast erwecken.
Der Rauch aus den Schornsteinen ist in das Bild der Stadt aquarelliert, keine einzige Flocke fällt mehr vom Himmel, und die Krähe ist noch immer im Flug erstarrt. Oder es ist, wie er gelesen hat, der Tod, der, wenn er kommt, einen still aus der Gegenwart nimmt, und noch eine kleine Weile, und er kann fliegen, fliegen wie der Totenvogel, der sich mit ihm zusammen in Bewegung setzen wird.
Ihm ist schwindelig. Die Uhr in seiner Hand scheint plötzlich ein ungeheuerliches Gewicht zu besitzen. Er klappt sie zu, da kommt der Vogel unversehens in Bewegung, zieht einen eleganten Bogen über die Gärten, und in diesem Moment kommt Fokko die Idee, daß die merkwürdigen Phänomene an diesem Morgen mit der Uhr zusammenhängen könnten. Er öffnet sie wieder und die Krähe hält in der Luft inne. Er schließt sie, und der Vogel fliegt die alte, gedachte Bahn, fällt nicht vom Himmel und ist im nächsten Augenblick über dem Dach der Gertrudenkirche verschwunden.
Er steckt den Zettel in die Hosentasche, geht zum Kunstwerk hinüber, schaut den Tellern zu, die träge ihre ewige kontemplative Bahn ziehen, hört den hellen Klang, wenn sie sich berühren, und öffnet die Uhr. Es ist sogleich grabesstill. Die Teller bewegen sich nicht mehr, selbst die geringe Dünung des Wasser ist eingefroren. Das erinnert Fokko an den Koch und den Küchenjungen im Märchen von Dornröschen.
Er schließt
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