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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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die Uhr. Alles bewegt sich wieder.
    »Ich kann die Zeit anhalten«, sagt er still und öffnet die Uhr. Nichts rührt sich mehr, er geht zur Mauer im Heckenkarree und schaut kopfschüttelnd über die reglose Stadt. »Und es macht mir nichts.«
    Die Sache ist ihm unheimlich, er spürt den Impuls, das Ding in hohem Bogen von sich zu werfen und in einem verschwiegenen Winkel der Kleingärten zu versenken, aber was wäre, wenn sich die Uhr beim Aufprall öffnete, oder wenn jemand anderes sie fände? Er ahnt, welche Möglichkeiten es gäbe, wenn alles so wäre, wie es ihm vorkommt. Ich muß unter Menschen, vielleicht funktioniert es nur bei Vögeln und Tellern.
    Die Stadt ist nichts anderes als ihr Abbild. Aber das ist sie von hier oben meist sowieso, viel mehr als Kirchtürme, Baumwipfel und Rauchfahnen gibt es nie zu sehen, dennoch hat er jetzt das Gefühl, er hat alle Zeit der Welt, nichts läuft ihm mehr davon, die Erinnerung fällt ihm vielmehr zu, als drücke sie mit aller Macht in ein Vakuum, und unversehens steht ihm der vergangene Tag klar und deutlich vor Augen.
     
    Geschlichen hat er sich. Wie ein Hund, der Prügel bezogen hat. Der kalte Wind pfiff um die Häuserecken, auf den Spielplätzen waren keine Kinder mehr, und die Läden hatten längst geschlossen. Als es dunkel wurde, krachten die ersten Böller, und nachdem er eine Zeitlang durch die letzten Stunden des Jahres geirrt war, fiel ihm vor einem Schaufenster mit Blumen Frau Mönkedieck ein, die den Abend im Zimmer hinter dem Gemüseladen allein verbringen würde. Aber sie saß mit einer Nachbarin bei einer Feuerzangenbowle, nahm ihn in den Arm wie den verlorenen Sohn, steckte ihn kichernd auf dem Sofa unter eine Wolldecke, gab ihm reichlich Kartoffelsalat und Heißmacherwurst, und die beiden Frauen wetteiferten nun den Silvesterabend lang darin, ihn mit Geschichten zu füttern und mit reichlich Bowle zu wärmen.
    Kurz vor Mitternacht fragte Frau Mönkedieck nach Eva. Ihm war wohl danach, jemandem die unglückselige Geschichte zu erzählen, aber die Nachbarinnen wären zu dieser Stunde über die größte Tragödie in ein infernalisches Lachen ausgebrochen, so begnügte er sich damit, ihnen zu sagen, Eva habe Dienst in der Kneipe und komme irgendwann spät. Er sah das Mitleid in Frau Mönkediecks Augen, als sie ihm zum Abschied eine Plastiktüte mit zwei Flaschen Wein in die Hand drückte, für dich und dein Frauchen, habt euch lieb, Unglück gibt es schließlich genug. Kichernd verschwand sie in ihrer Gemüsekartause, ihr Wort schwebte ihm wie ein rätselhafter Ballon davon, doch kaum hatte er einen Schritt ins Freie getan, da traf ihn die Feuerzangenbowle mit einem schweren Hammer am Kopf, er wankte vorwärts, seine Beine machten ein halbes Dutzend Schritte mit ihm, schon war er auf der anderen Seite der Adolfstraße und wäre in dieser Sekunde ein Auto gekommen oder auch nur einer dieser aggressiven Radfahrer, es hätte ihn umgemäht und er wäre auf dem Kopfsteinpflaster verendet wie ein durchgeregneter Pappkarton. Wenigstens war ihm warm.
    Bei der Fleischerei versuchte er, die Weinflaschen aus der Plastiktüte in den Rucksack zu packen, das war aber nicht so einfach, weil der Bürgersteig an der Stelle immer wieder unter seinen Füßen wegrutschte, und außerdem just in diesem Moment die Leute aus den Häusern gestürzt kamen und ein irrsinniges Feuerwerk abbrannten. Es kam ihm vor, als wäre er in das Auge eines Bürgerkrieges geraten, er verdrückte sich in den Schatten der Einfahrt zum Hof der Fleischerei, fand einen Mauerwinkel, und in der Ecke wird er wohl in sich zusammengerutscht für ein Weilchen eingeschlafen sein, denn als er irgendwann erwachte, war die Front offenbar weitergezogen, hatte ein entferntes Grollen hinterlassen und hier und dort ein paar lächerliche Knallfrösche. Mit einem betonschweren Kopf auf einem Körper aus Silikon wankte er auf die Lotter Straße hinaus.
    Es wäre nicht weit bis nach Hause gewesen. Das neue Jahr war da, Evas Befindlichkeiten mochten verflogen und Frau Mönkediecks Wein heilsam sein, dennoch hatte er nicht das Gefühl, der Situation, wie immer er sie auch vorfinden würde, gewachsen zu sein. Er war froh, daß er sich auf den Beinen halten konnte, obwohl der Rucksack an ihm zerrte wie ein verrückt gewordener Affe Huckepack.
    Richtung Kneipe, dachte er nur, vielleicht war sie ja doch da, war ihr die Einsamkeit zuviel geworden, vielleicht hockte sie in dem fürchterlichen Trubel, der dort jetzt herrschte,

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