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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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und es tat ihr leid, daß sie ihn entsorgt hatte wie ein altes Radio, aus dem nur noch klassische Musik plärrte.
    Als er sich an das Heger Tor lehnte, das man seit gestern durch ein Duplikat aus Gummi ersetzt hatte, kroch die Übelkeit sauer in ihm hoch und wollte an die frische Luft wie ein reifer Alien, er schlich durch die Gassen, erkannte wohl den Marktplatz, wußte aber nicht mehr so recht, wo Evas Kneipe zu finden sein könnte. Augenscheinlich hatte jemand mit den Häusern und Grundstücken der Altstadt gespielt. Er verschwand im Hexengang und torkelte über die Brücke. Am nördlichen Ende des Herrenteichswall traf er auf ein paar durstige Seelen am Fluß, die ihn aufhielten und fragten, ob er etwas zu trinken habe.
    Er schüttelte den Kopf wie eine Eisenkugel, die er nicht mehr lotrecht auf die Schultern zurückbekam, jemand half ihm auf eine Bank, nahm ihm den Rucksack ab und untersuchte ihn offenbar, denn kurz darauf hielten die fröhlichen Brüder Frau Mönkediecks Wein in Händen und ließen ihn in ihre verschwommenen Körper laufen.
    Doch, ja, murmelte er und versuchte, eine Erklärung zu geben, vielleicht sogar die ganze Geschichte zu erzählen, aber er begriff sie schon selber nicht mehr, und die freundlichen Herrschaften hatten längst lachend und brüllend eine eigene gefunden.
    Er erwachte in einem seltsamen Schwebezustand, fühlte sich von Händen und Schultern getragen, als wäre er zu seiner feierlichen Verbrennung unterwegs, er wollte etwas sagen, aber die Übelkeit ließ nicht zu, daß er seinen Mund auch nur für eine Sekunde öffnete. Sie würden ihn von der Brücke in den Fluß werfen, und er würde exakt noch die hundert Meter bis zum Wehr bei Bewußtsein bleiben als sein eigenes Totenschiff, das majestätisch über das eisige Wasser trieb, doch da hatten sie die Brücke bereits passiert, traten in das schale Licht, das wie ein Glas schlechter Milch am Firmament klebte, jemand schob einen eisernen Deckel beiseite, kicherte ein paar kryptische Worte von Edgars Himmelbett, und ehe er noch daran denken konnte, über die Bedeutung nachzudenken, schwebte er über eine Kante in den Schatten eines menschengroßen Behältnisses, für den kleinen Moment der Schwerelosigkeit verlor er jegliche Übelkeit, dann fiel er in ein paradiesisches Kissen, und für die wenigen Atemzüge, die ihm blieben, bis er einschlief, hörte Fokko van Steen das Gute-Nacht-Lied der barmherzigen Brüder sich lärmend und lachend entfernen.
     
    Der Schnee fällt jetzt gleichmäßig in dünnen Flocken aus dem konturlosen Himmel, ein verspielter Wind bläst ihn aus den Zweigen der kahlen Bäume, fegt ihn in Streifen vom Bahnsteig und zeichnet geometrische Muster zwischen die Bahngleise. Fokko sitzt im Wartehäuschen und fixiert durch das Gestöber die Uhr auf dem Bahnsteig. Der rote Zeiger springt von Sekunde zu Sekunde, er fließt nicht mit der Zeit, er dokumentiert sie gewissermaßen immer erst nachträglich, scheint ihr nicht recht zu trauen, und wenn er eine Runde vollendet hat, kommt er gar vollständig zum Stillstand, wartet geduldig, bis der mißtrauische Minutenzeiger behäbig einen Strich weiter vorangesprungen ist, ehe er in seine ruckhafte Fortbewegung zurückfindet. Vielleicht begreift der Mensch die Zeit nur in Schritten, das ist wie das Phänomen des unendlichen Raums, das in keines Menschen Kopf paßt, er orientiert sich wie ein vorzeitlicher Sammler oder Jäger ausschließlich in einer zweidimensionalen Landschaft, es gibt nur vorne und hinten – und den Punkt, an dem ich stehe.
    Fokko schaut sich um. Niemand wartet am Neujahrsmorgen auf dem einzigen Bahnsteig des Hasetorbahnhofs, nur er selbst, aber er ist sich nicht so recht sicher, worauf. Der Wind spielt mit dem Schnee, auf einem der Signale sitzt die Krähe von vorhin, und die Uhr schreitet in staksigen Schritten gen zehn. Er zieht seinen Schatz aus der Tasche und hält ihn in den Händen geschützt. Exakt zur vollen Stunde wird er gleich die Bahnhofsuhr anhalten, die Krähe wird sich nicht mehr vom Fleck rühren, der Wind wird verschwunden sein und der Schnee kalt erstarrt, als wäre er nur auf die Scheiben des Wartehäuschens gemalt.
    Wenn er seine Zauberuhr in der vergangenen Nacht bereits besessen hätte, überlegt er, und wenn er sie in dem Moment geöffnet hätte, als die trunkenen Brüder ihn eben in den barmherzigen Sarkophag versenkt und sich ausgelassen entfernt hatten, just, da ihm die Feuerzangenbowle mit unnachgiebiger Entschlossenheit die

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