Die Uhr der Skythen (German Edition)
einer Schlucht, die Brücke stürzt in den Kanal, dessen Wasser längst ausgelaufen ist, der Kontinent kalbt, die Provinzen Friesland und halb Groningen driften nordwärts, schieben noch eine Weile die westfriesischen Inseln vor sich her, ehe sie auf die Nordsee hinaus und einem ungewissen Schicksal entgegentreiben.
Er trinkt Wasser und betrachtet den alten Mann neben sich mit einem skeptischen Blick. Es gibt eine Geschichte des portugiesischen Schriftstellers Saramago, da bricht die iberische Halbinsel komplett von Europa ab und treibt auf den Atlantik. Das wird eine intelligente Parabel sein, aber Fokko kann sich nicht erinnern, wo die riesige Scholle zuletzt gelandet ist.
Der Laden, vor dem sie sitzen, ist so etwas wie ein Bettenhaus, im Schaufenster jedenfalls steht ein mit unzähligen Kissen und Decken kunterbunt überfrachtetes Bettgestell. Als er das erkennt, wird ihm schlecht vor Müdigkeit. Er nimmt seinen Rucksack, gibt dem Alten einen kollegialen Klaps auf die Schulter und betritt das Geschäft. Auf der Glasscheibe der Eingangstür steht in goldenen, geschwungenen Lettern: Sluiters Beddegoed. Der Laden ist klein und altertümlich eingerichtet mit von ewigen Öffnungszeiten erodierten Holzregalen, in deren Fächern säuberlich gestapelt die Bettwäsche lagert: leuchtend weiß, vereinzelt in zarten Pastellfarben. Hier ist die Zeit stehengeblieben, lange bevor der dreiste Dichter in das Ditzumer Hafenbecken stürzte. In der Mitte der Regale gibt es eine Öffnung, die mit einem Vorhang verschlossen ist. Dahinter findet sich vermutlich ein Lagerraum, ein Büro und vielleicht sogar die kleine Wohnung der Besitzer. Er könnte das Haus jetzt ungeniert durchsuchen, die Geschichte der Wäschehändler studieren, ihre Bücher kontrollieren und ihnen den Spaß an der nächsten Inventur verderben, aber sein angeborener Anstand und die apokalytische Müdigkeit lassen nichts von dem zu. Nicht einen Schritt wird er hinter den Vorhang setzen, nimmt lediglich Quartier für eine Nacht, setzt den Rucksack neben die alte Registrierkasse auf den hölzernen Tresen, der gewiß lange vor dem letzten Krieg vom Dorftischler angefertigt worden ist, zieht sich bis auf die Unterwäsche aus, steigt in den Schaufensterkasten wie in einen Alkoven, räumt mit den Kissen und Decken herum, legt sich in das ausgestellte Bett und schließt endlich die Augen.
Es wird immer das gleiche Wetter sein, die gleiche Zeit. Die Sonne wird ihm immer vom selben Punkt aus entgegenstehen. Wie weit reicht eigentlich der Einfluß dieser komischen Uhr? Bis nach Amsterdam? Vielleicht gibt es tatsächlich einen begrenzten Einzugsbereich seiner Aura, und da er heute das Rheiderland verlassen hat, kommt hinter ihm die Welt womöglich wieder in Gang. Die fromme Frau in der alten Kirche von Marienchor hat sich just von den Knien erhoben und für einen halben Tag von der Last ihrer Sünden befreit, der Schriftsteller Jakob Schwammheimer zappelt an dem Enterhaken, mit dem Kapitän de Vries ihn an seine Fähre heranzieht und Eva schaut voller Angst und Hoffnung zu, weiß, daß der Freund, den sie mal hatte, einen Steinwurf entfernt Bratfisch und Kartoffelsalat verkauft und wird alsbald wie die anderen voll gespenstischer Ratlosigkeit erkennen, daß Fokko van Steen spurlos verschwunden ist und bleibt. Das wird nicht funktionieren. Das hat er schon einmal vergebens durchdacht. Wo wären dann die Ränder des Zaubers und was geschähe an ihnen? Man kann es nur so denken, daß die Uhr einen Einfluß besitzt, der universal ist: bis zur Sonne, über das Planetensystem hinaus bis in die letzte Ecke des Kosmos. Eins hängt unbedingt am anderen. Wahrscheinlich aber ist es nichts anderes als eine grandiose Überschätzung und die Geschichte spielt sich nur in seinem Kopf ab: wie jemand glaubt, er sei Napoleon.
Mit dem Erwachen hat er das Gefühl, für mindestens zwölf Stunden geschlafen zu haben. Als er sich ein wenig erhebt, den Oberkörper auf den Ellenbogen stützt, mit blinzelnden Augen durch das Schaufenster die sonnenhelle Szene da draußen betrachtet, dem Blick des alten Mannes über den Kanal und auf die Kirchturmuhr folgt, die eine Zeit zeigt, die er nicht begreift, da ist ihm, als wäre das ein letztes Bild aus einem verwirrenden Traum, dem man morgens für eine Weile schwermütig nachhängt.
Umständlich klettert er aus dem Bett und dem Alkoven, fühlt sich keineswegs erholt, eher zerschlagen und verunreinigt, als tauchte er aus einem weit entfernten
Weitere Kostenlose Bücher