Die Uhr der Skythen (German Edition)
Jahrhundert auf, in dem er just eine Torfschute von Critzum nach Pekela und wieder zurück getreidelt hat. Es gibt keinen Morgen mehr. Jetzt begreift er die Zeit, die an der Kirche von Boven Pekela festgeschraubt ist. Die Welt gehört ihm allein. Er entledigt sich seiner Unterwäsche, tritt splitternackt vor das Bettenhaus, reckt sich in der Abendsonne, geht die Böschung hinab und steigt in den Kanal. Das Wasser ist kühl und verhält sich vollkommen normal. Mit ein paar Schwimmzügen ist er unter der Brücke durch und in einem Bogen am anderen Ufer. Als er aus dem Wasser klettert, ist ihm, als ginge ein kalter Wind. Er nähert sich der Frau auf dem Fahrrad, die sich auf den Pedalen ausbalanciert, streicht ihr mit der nassen Hand das blonde Haar zurück, das sich über ihren Augen, der Nase und den schönen Lippen verwirbelt hat: als wäre sie Eva. Oder Merreth. Vorsichtig, um ja ihr Gleichgewicht nicht zu stören, legt er eine Hand auf ihre Wange, die andere auf ihre Hüfte, kommt ihr nahe und versucht, irgendwas aus ihren Augen zu lesen. Da steht nichts geschrieben, allenfalls mag er eine traumverlorene Erinnerung erkennen an das, was geschah, bevor die Zeit am Kirchturm festgewachsen ist.
Mit dem Daumen drückt er ihre Oberlippe ein wenig weg, fühlt mit dem Fingernagel nach ihren Zähnen, derweil die andere Hand von ihrer Hüfte in jene Fuge rutscht, die sich auf natürliche Weise zwischen dem Ansatz des Oberschenkels und dem unteren Bauch ergibt. Nicht im entferntesten schwelt die Spur eines wollüstigen Affektes in ihm, wie er leicht an seinem naßkalten Geschlecht bemerken kann, es ist etwas anderes, das ihn heftig erregt, ein unstillbarer Hunger nach einer warmen Berührung, nach einem einzigen Wort, mag es noch so überrascht, verzagt oder entsetzt daherkommen.
Aber sie sagt nichts, reagiert nicht auf die ungeheuerliche Nähe. Er könnte sie wegtragen, sie in der Intimität seiner Bettstatt vom bösen Zauber erlösen, aber wahrscheinlich müßte sie auf der Stelle den gerade wiedergewonnenen Verstand verlieren und am Ende wäre es nichts anderes, als täte er es mit sonst einer Schaufensterpuppe.
Er läßt von ihr ab und sein Blick fällt auf die Kirche von Boven Pekela.
Einzig die himmlischen Institutionen werden weiterarbeiten, die Hölle, das Fegefeuer und die ewige Glückseligkeit, dort gibt es eine eigene Systemzeit, die vollkommen unabhängig ist von der des irdischen Jammertals. Und die Schnittstelle zwischen den Systemen ist die Sekunde des Todes, die einige Menschen seit etwa einer Woche durchleben.
Ihm ist fürchterlich kalt. Er trabt über die Brücke ins Bettenhaus zurück, trocknet sich mit einer Wolldecke ab und kriecht in das Bett, in dem seine Wärme noch spürbar scheint, es nützt aber nichts, sofort beginnt er zu zittern, daß ihm die Zähne klappern, er zwingt sich noch einmal auf, trinkt alles Wasser, das er im Rucksack findet, legt sich wieder hin, zieht sich die Bettdecke über den Kopf und ist sofort eingeschlafen.
Zwischendrin wacht er auf, erinnert sich schwach an düstere Träume, zittert noch immer und hat einen entsetzlichen Durst. Er nimmt eine von den leeren Flaschen und schleicht sich durch den Vorhang in das Hinterzimmer. Dort betritt er ein Büro. Eine alte Frau sitzt an einem Schreibtisch und zählt das Geld, das vor ihr ausgebreitet liegt, ein paar Scheine und ein Haufen Münzen, wahrscheinlich die kargen Tageseinnahmen, in der Hauptsache das Wechselgeld. Der Raum ist vollgestellt mit Ordnern, Paketen und Tüten, Fokko hat jedoch kein Interesse, den Geschäften der Sluiters nachzugehen. Der Alte auf der Bank vor dem Haus ist gewiss ihr Mann. Sie macht die Kasse, er schaut in die Abendsonne, weil er weiß, daß sich der Handel längst nicht mehr lohnt. Aber sie werden weiter jeden Morgen den Laden öffnen, weil sie nicht wissen wollen, was danach käme.
Zur Seite hin findet er eine kleine Küche. Der Wasserhahn über dem Spülbecken ist ihm untertan. Er füllt die Flasche und trinkt sie aus. Das Zittern kehrt augenblicklich zurück. Er geht nach vorn und legt sich wieder in das Bett. Ich bin krank, denkt er noch, dann ist er wieder eingeschlafen.
So geht es eine unbestimmbare Zeit. Er wacht auf, trinkt Wasser und schläft wieder ein. Es ist unmöglich, dabei den Anschluß an das zu bewahren, was einmal die Zeit gewesen ist. Seine innere Uhr versagt komplett, weil die normalen Lichtsignale des Tages und der Nacht fehlen. Er steckt völlig hilflos in der
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